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Saint Maud

Bitterer Trip in religiösen Wahn

 Vereinigtes Königreich 2019    

 Regie: Rose Glass                          

 Laufzeit: 84 Minuten

 

Handlung: Die junge Katie übernimmt die Pflege einer ehemaligen Tänzerin, die aufgrund einer schweren Krankheit nicht mehr lange zu leben hat. Amanda Köhl war in ihrer aktiven Zeit eine Berühmtheit, jetzt versucht die 49-Jährige ihren Frust und ihre Langeweile mit Zigaretten, Alkohol und einer käuflichen Geliebten zu vertreiben. Katie, die nach einem Bekehrungserlebnis streng gläubig ist, mit Gott spricht und sich „Maud“ nennt, will die schwerkranke Diva vom Laster auf den Pfad des Glaubens bringen. 

 

Besprechung: Manche nennen dieses Regiedebüt von Rose Glass („Love Lies Bleeding“) einen slowburn, andere einen psychologischen oder elevated Horrorfilm. In meinen Augen ist „Saint Maud“ in erster Linie ein düsteres und verstörendes Drama, das nur wenige, aber sehr effektive Horrorelemente nutzt. Dank der gut gecasteten und großartig spielenden Hauptdarstellerinnen, starken Bildern und einer knackigen Laufzeit, ist „Saint Maud“ eindrucksvoller als das durchschnittliche Independent-Feel-Bad-Movie.

 

Vor allem Morfyyd Clarke, die sich als Katie durch ein englisches Küstenstädtchen bewegt, hat mich als Zuschauer nach und nach an den Wickel bekommen. Ihre himmelschreiende Einsamkeit, ihre verstiegene Suche nach Verbindung und Bedeutung, ihre Zärtlichkeit und ihr Wahn wirken nach und lassen den Film komplexer erscheinen als seine auf dem Papier ziemlich einfache Geschichte. Aber auch Jennifer Ehle als sterbende Tänzerin hätte nicht besser besetzt sein können. Sie ist für mich eine charismatische, interessante und nachvollziehbare Figur, die ich durchaus sympathisch, aber auch selbstbezogen und emotional unintelligent finde. Mit beiden Charakteren empfinde ich starkes Mitgefühl, aber beide machen mir auch je auf ihre Weise Angst. Es sind starke, oder zumindest energiegeladene Frauen in schwachen Positionen.   

 

Natürlich kann man den Film als schlichte Religionskritik lesen, aber das ist nicht die Lesart, die mich interessiert. Vielmehr fasziniert mich, wie im Wahn eine zwingende Überzeugungskraft liegt und im starken Glauben etwas Wahnhaftes. „Maud“ gewinnt aus ihren Ansichten eine fokussierte Kraft, die etwas Unheimliches, aber auch etwas Beeindruckendes hat. Wir ahnen, dass der religiöse Glaube dieser jungen Frau Trost und einen Sinn bietet, wir erleben aber auch, dass er ihr dabei hilft, zerstörerisches Verhalten vor allem sich selbst gegenüber zu rechtfertigen. Früher war Katie vielleicht nur eine verzweifelte Person, die sich geritzt hat, dann aber kam die Bekehrung, sie nannte sich Maud und geißelt sich nun für Gott. 

 

Der Film verläuft nicht unbedingt überraschend und hängt für mich in der Mitte einmal kurz, aber allein die letzte Sekunde lässt hundert halbgare Horrorfilme komplett hinter sich. Das ist ein richtig starkes Debüt, allein schon, weil das Bild der aufopferungsvollen Krankenschwester – oder allgemeiner gesagt: der Frau, die ganz im Dienst für andere aufgeht – hier einen langen, nachtschwarzen Schatten wirft, an den man eine Weile denken wird.  

 

Trivia: Morfyyd Clark hat blaue Augen. Für den Film bekam die walisische Schauspielerin aber eine braune Kontaktlinse, so dass sie zwei verschiedene Augenfarben hat. 

 

Der größte Teil des Films wurde in der nordenglischen Küstenstadt Scarborough gedreht, der Rest in London.

 

Saint Maud ist keineswegs der erste Horrorfilm, in dem Werke des englischen Malers und Dichters William Blake (1757 – 1827) eine Rolle spielen. Weitere Beispiele sind u.a. „Hannibal“ (2001) und „Roter Drache“ (2002), „Antichrist“ (2009) und „Der Nachtmahr“ (2015). Es gibt ein Buch über William Blake’s Gothic Imagination, das sich mit der Nähe von Blakes Werk mit Bildern und Texten der schwarzen Romantik und der sogenannten gotischen Schauerliteratur befasst. Ein passendes Blake-Zitat für diesen Film wäre: „Sooner murder an infant in its cradle than nurse [!] unacted desires“ (William Blake: „Proverbs of Hell“ in „The Marriage of Heaven and Hell“).

 

Ein Blake-Bild, das Maud besonders fasziniert, ist „The Good and Evil Angels“.  

 

Gott spricht in dem Film walisisch. Und es ist sehr unheimlich.

 

IMDB: 6.7 von 10

Letterboxd-Rating: 3.5 von 5                                                                                                      

Neft-Rating: 4 von 5

 

// HOPSYS GEDANKEN

 

Ich möchte hier ein paar Hintergründe zur sogenannten schizotypischen Persönlichkeitsstörung erläutern. Ich kann mir vorstellen, dass Katie ein solcher Typ sein könnte, will damit aber weder Ferndiagnosen stellen, noch sagen, dass psychische Krankheiten leicht voneinander abgegrenzt werden können. Diagnosen sind Hilfswerkzeuge, manche können damit besser umgehen als andere. Ein Beispiel dafür, wie kniffelig es zum Beispiel mit den „Persönlichkeitsstörungen“ ist, zeigt sich unter anderem daran, dass das international genutzte Diagnosehandbuch ICD* in seiner 11. Version die verschiedenen Persönlichkeitsstörungen (narzisstische, zwanghafte, paranoide usw.) gestrichen hat und nur noch den Oberbegriff „Persönlichkeitsstörung“ hat stehen lassen. Die Überlappungen waren zu groß. Die mit dem Begriff verbundene Stigmatisierung wird eh seit Jahren diskutiert. 

 

Dabei ist das Konzept „Persönlichkeitsstörungen“ nicht uninteressant. Gemeint ist damit, dass ein Mensch aufgrund von dauerhaften Merkmalen in seiner Persönlichkeitsstruktur in bestimmten Reaktionen auf bestimmte Situationen ziemlich unflexibel ist und auch nicht angemessen im Sinne der gesellschaftlichen Mehrheitsauffassung agiert. Menschen mit „paranoider Persönlichkeitsstörung“ fühlen sich beispielsweise schnell hintergangen und bedroht, neigen zu übermäßigem Misstrauen und daraus resultierend zu Vorwürfen, Streitsucht und Groll. Früher hätte man gesagt: ein etwas schwieriger Charakter.

Die schizotypische/schizotype Persönlichkeitsstörung ist noch nicht besonders gut erforscht. Sie gehört zusammen mit der paranoiden und der schizoiden PS ins Cluster A, da sind die schrulligen, exzentrischen Sonderlinge einsortiert. Um eine schizotypische PS diagnostiziert zu bekommen, muss man über einen längeren Zeitraum mindestens fünf der folgenden neun Kriterien erfüllen.

 

1. Beziehungsideen (Ereignisse, die nichts mit einem zu tun haben, werden doch aufs eigene Selbst bezogen. Die ausgeprägte Version davon wird „Beziehungswahn“ genannt und kommt während Psychosen vor),

2. Seltsame Überzeugungen oder magisches Denken, die das Verhalten beeinflussen und nicht mit den Normen der jeweiligen subkulturellen Gruppen übereinstimmen (z. B. Aberglaube, Glaube an Hellseherei, Telepathie oder an den „sechsten Sinn“; bei Kindern und Jugendlichen bizarre Fantasien und Beschäftigungen),

3. Ungewöhnliche Wahrnehmungserfahrungen einschließlich körperbezogener Illusionen,

4. Seltsame Denk- und Sprechweise (z. B. vage, umständlich, metaphorisch, übergenau, stereotyp),

5. Argwohn oder paranoide Vorstellungen,

6. Inadäquater oder eingeschränkter Affekt 

7. Verhalten oder äußere Erscheinung sind seltsam, exzentrisch oder merkwürdig,

8. Mangel an engen Freunden oder Vertrauten außer Verwandten ersten Grades,

9. Ausgeprägte soziale Angst, die nicht in zunehmender Vertrautheit abnimmt und die eher mit paranoiden Befürchtungen als mit negativer Selbstbeurteilung zusammenhängt.

 

Schaut man sich Katie an, die sich nach einem Erlebnis „Maud“ nennt und mit Gott spricht, scheinen einige der Punkte gut zu ihr zu passen. Beziehungsideen? In gewisser Weise ja, weil sie sich für ihre Klientin eine Bedeutung gibt, die sich für diese überhaupt nicht hat. Magisches Denken? Ja, sie spricht nicht nur mit Gott, er spricht auch mit ihr. Und verschafft ihr auch ungewohnte körperliche Wahrnehmungserfahrungen. Ihre Affekte wirken sehr kontrolliert. Enge Freunde hat sie keine. Und damit hätten wir schon fünf der neun Kriterien mehr oder minder zwingend erfüllt. Das Tragische an einer Person wie Katie, egal welche Diagnose man ihr gibt, oder ob man das überhaupt tut, ist ihre mit Händen zu greifende Einsamkeit. Wir wissen nicht, warum sie so ist, wie sie ist. Bei der schizotypischen PS gibt es Studien, die frühkindliche Traumatisierungen bzw. Vernachlässigungen als bedingende Faktoren plausibel machen. Diese Ursachen lassen sich allerdings bei ziemlich vielen psychischen Krankheiten oder leidvollen Charaktereigenschaften anführen. Über die schizoide Persönlichkeitsstörung, auf die wir gleich noch kurz kommen, heißt es auf Wikipedia:

 

„Demnach entstehe eine schizoide Persönlichkeitsstruktur, wenn eine angeborene hochgradige Sensibilität und Irritierbarkeit kombiniert würden mit Formen starker emotionaler Vernachlässigung, brüsker mütterlicher Fürsorge oder chaotischen sozialen Verhältnissen. In vielen Fällen weist ein Elternteil psychische Störungen auf oder konnte sein Kind nicht verstehen. Dem Säugling und Kleinkind fehlt ausreichender Schutz zum Ausbilden der ersten selbstständigen Kontakte mit der nächsten Umgebung – solche Versuche wurden entweder gar nicht beantwortet und konnten sich nicht weiterentwickeln, oder es wurde so stark auf sie reagiert, dass nicht die Freude an der Antwort, sondern die Beängstigung durch sie als bleibende Erfahrung im Gedächtnis bleibt. Bisher liegen dazu allerdings noch keine belastbaren empirischen Untersuchungen vor.“

 

Katie ist einsam. Woran liegt das? Etwas scheint mir ihr nicht zu stimmen. Sie baut Nähe zu anderen Menschen auf verstörende Weise auf. Mal, indem sie sich selbst den Auftrag gibt, einen sterbenden Menschen zum Heil zu führen. Mal, indem sie angetrunken nach unpersönlichem Sex sucht. Man hat den Eindruck, dass sie immer die Kontrolle haben muss, dass sie aber gleichzeitig eine Sehnsucht nach Hingabe hat. Auch gibt sie sich bescheiden und aufopferungsvoll, hat aber insgeheim ziemlich größenwahnsinnige Vorstellungen von ihrer eigenen quasi-heiligen Bedeutung. Sie ist ein ambivalenter, womöglich zerrissener Charakter zwischen großem Kontroll- und Distanzbedürfnis und dem Wunsch nach Nähe, Hingabe und Verschmelzung. Zwischen Unterwerfung und Dominanz. Zwischen Heiliger und Hure. Und zwischen scheinbar eher kühler Gefühlswelt und einer großen inneren, mit anderen nicht teilbaren Sensibilität.

 

Übrigens sind die Kriterien für eine schizoide Persönlichkeitsstörung ähnlich zu der einer schizotypischen. Hier liegt der Fokus aber noch mehr auf dem Eigenbrötlerischen, der Affektarmut, auch einer gewissen Freudlosigkeit und einem Desinteresse wie es auch bei der sogenannten Negativsymptomatik einer Schizophrenie beobachtet werden kann. Menschen, denen man eine solche PS diagnostizieren könnte, sind vor allem mit ihrer Innenwelt beschäftigt, mit Fantasien und Introspektion. Sie scheinen desinteressiert an Lob und Tadel, sozialen Normen und überhaupt an menschlichen Bindungen. Ich erwähne diese PS hier, weil man etwa seit den 1980ern die Menschen mit schizoider PS als tatsächlich gefühlsarm charakterisiert, während man den schizotypischen eine große innere Empfindsamkeit bescheinigt. Diese Trennung wird allerdings von einigen Wissenschaftler*innen kritisiert. Ich zitiere hier Wikipedia: "Salman Akhtar und Otto Kernberg zweifeln z. B. am DSM-Kriterium „hat keinen Wunsch nach engen Beziehungen“. Sie werten dies als bloße Oberflächenerscheinung, weil sich dahinter eine hohe emotionale Sensibilität für die Reaktionen anderer verberge. Akhtar fordert daher eine Rückbesinnung auf Kretschmers ganzheitliches Konzept und kritisiert das DSM, weil es die Bedeutung verkenne, die soziale Beziehungen für schizoide Menschen haben.“ 

 

Für Katie haben soziale Beziehungen ganz eindeutig eine Bedeutung. Sie kämpft sogar auf ihre Weise darum, erlebt mit anderen ihre besten und schlimmsten Momente und sucht Anerkennung in einem Umfeld, dass viel zu wenig Ahnung von Katies besonderem Charakter hat, um damit wirklich umgehen zu können.

 

Zur weiteren Lektüre: 

 

https://www.psychosoziale-gesundheit.net/psychiatrie/schizotyp.html

https://www.latimes.com/entertainment-arts/movies/story/2021-02-14/saint-maud-epix-rose-glass-morfydd-clark

 

*International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems 

 

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