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Die Vögel

Bis heute eindrucksvoller Genre-Mix

 USA 1963    

 Regie: Alfred Hitchcock                          

 Laufzeit: 120 Minuten

 

Handlung: Melanie Daniels ist eine zum Übermut neigende Millionärstochter. Als sich der Rechtsanwalt Mitch Brenner in einer Zoohandlung in San Francisco mit ihr ein flirtintensives Machtspielchen liefert, fängt sie Feuer und will dem selbstbewussten Mann zeigen, was eine Harke ist. Dafür reist sie ihm bis ins kleine Küstenstädtchen Bodega Bay hinterher, wo Mitch die Wochenenden im Elternhaus bei Mutter und kleiner Schwester verbringt. Die Mutter sieht das sich anbahnende Verhältnis zwischen Melanie und Mitch gar nicht gerne. Ein noch größeres Problem sind allerdings die Möwen, Spatzen und Krähen der Gegend. Diese rotten sich nämlich in immer größer werdenden Schwärmen zusammen und greifen Menschen an. 

 

Besprechung: In der ersten Hälfte eine Screwball-Comedy, die Doris Day und Rock Hudson kaum besser hinbekommen hätten, wird der Film in der zweiten Hälfte zum apokalyptischen Tierhorror, ohne dass es auf mich wie ein Bruch wirkt. Und ich finde beide Hälften stark. Als Jugendlicher konnte ich mit dem Flirt zwischen Tippi Hedren und Rod Taylor nicht viel anfangen. Mittlerweile aber bin ich begeistert von der Leinwandpräsenz der beiden, der Chemie zwischen den Figuren und dem wirklich humorvollen Plot, in dem Melanie Daniels (Tippi Hedren) einfach nicht lockerlässt, um Mitch Brenner (Rod Taylor) ein Paar Sperlingspapageien ins Elternhaus zu bringen. Damals war es sicher ungewöhnlich – um nicht zu sagen „unschicklich – für eine Frau, selbst derart die Initiative zu ergreifen, sich in einem „Wer verarscht wen?“ Spiel nicht unterzuordnen, und obendrein gleich in der ersten Szene auf einen anzüglichen Pfiff mit einem erfreuten Lächeln zu reagieren. Und meine Güte sehen Tippi Hedren und Rod Taylor toll aus! Eine Göttin und ein Gott im feschen Dress der frühen 1960er

 

Spannung kommt dann nicht nur mit den zunehmend verhaltensauffälligen Vögeln ins Spiel, sondern auch mit der Figur der Annie (Suzanne Pleshette), die als ehemalige Geliebte von Mitch gleichzeitig Konkurrentin und Vertrauensperson für die mondäne Melanie ist. Das wirkt auch heute noch modern. Spannend ist auch das Verhältnis von Mitch und seiner Mutter, die vor sechs Jahren ihren Ehemann verloren hat und sich seitdem an ihren Sohn klammert. Ganz so besitzergreifend wie die Mutter von Norman Bates ist sie allerdings nicht, man könnte fast sagen, dass die Figur der beherrschenden Mutter hier von Hitchcock eine Art Läuterung und Erlösung erfährt, was den Film etwas wärmer und freundlicher macht als Psycho.

 

Trotzdem hat sich der Horror gewaschen. Dafür sorgt auch die irrwitzige Tonspur. Unter der Aufsicht von Bernard Herrmann, der den ikonischen Score zu Psycho komponiert hatte, erzeugten die deutschen Komponisten Remi Gassmann und Oskar Sala oft mit Hilfe eines Trautoniums eine Reihe elektronischer Effekte, die wie monströse Stimmen unzähliger Vögel gerade im Kino starke Wirkung entfalten. Dass die alltäglichen und harmlosen Tiere hier zur nicht erklärbaren Bedrohung werden, ist ein weiterer Kniff, der den Film auch als Horrorfilm stark macht. Zwar sind nicht alle Szenen mit den insgesamt 3200 für den Film trainierten Vögeln, ohne Fehl und Tadel – man sieht schon immer wieder, dass die Flattermänner auch mal einfach in Szenen reinkopiert wurden – aber hin und wieder erreicht der Film visuell und akustisch eine visionäre Intensität, die 1963 so sicher noch niemand auf der Leinwand gesehen hatte. Auch heute noch kommt es mir in manchen Momenten so vor, als ob „Die Vögel“ Sequenzen eines auf Film gebannten Alptraums enthält. Dazu kommen einige wenige blutige Effekte, die so sparsam wie effektiv eingesetzt werden, und die aus damaliger Sicht sicher ganz schön hart waren. Es ist einfach toll, wie Hitchcock die Terrorschrauben in der zweiten Filmhälfte immer fester zieht. Das kann man auch heute nicht besser machen, und es ist eine spannende Frage, warum es bisher noch kein Remake von „Die Vögel“ gibt.  

 

Trivia: Es gibt allerdings einen schlechten US-amerkanischen TV-Film aus dem Jahr 1994, der auf Deutsch „Die Vögel II – die Rückkehr“ heißt und 30 Jahre später in der Bodega Bay spielt.

 

Der Film enthält keine eigens komponierte Filmmusik. Lediglich zwei Szenen enthalten Musik: Einmal spielt Melanie auf dem Klavier der Brenners die erste Arabeske von Debussy, ein anderes Mal singen die Kinder in der Schule „Risseldy Rosseldy“ singen, die amerikanische Version des schottischen Volkslieds „Wee Cooper O’Fife“, für das Drehbuchautor Evan Hunter zusätzliche Strophen schrieb.

 

Seinen üblichen Cameo-Auftritt hat Hitchcock gleich am Anfang. Er führt dabei seine eigenen Terrier Geoffrey und Stanley aus einer Zoohandlung auf den Gehsteig. 

 

Der Film basiert lose auf der Erzählung „Die Vögel“ von Daphne du Maurier aus dem Jahr 1952. Die Geschichte hatte Maurier ursprünglich als Vorlage für die TV-Serie „Alfred Hitchcock präsentiert“ geschrieben.

 

Tippi Hedren, die für ihre Darstellung einen Golden Globe erhielt, sprach nach Hitchcocks Tod davon, dass er sie am Set schikaniert und belästigt habe und nachher dafür gesorgt hätte, ihre Karriere zu beschädigen

 

Die Szene, in der Mitch Melanies Kopfwunde mit einem Wattebausch abtupft, wirkt ziemlich künstlich, hat aber einen subtilen Symbolwert: Als Melanie selbst den Bausch hält, kann man in ihrem Arm und ihrer Hand einen Vogel erkennen, mit dem Ring am kleinen Finger als Auge. Hedren bestätigte später, dass das Hitchcocks Absicht gewesen sei.

 

Das im Film genutzte Potter-Schoolhouse galt schon während der Dreharbeiten als Spukhaus, was Hitchcock super fand. Heute ist das Haus in Privatbesitz.

 

Und noch ein Trivia unter den vielen Infos zu diesem Klassiker: Nach der Premiere in London wurden die Kinobesucher auf dem Weg nach Hause noch einmal massiv erschreckt. Als Publicity-Gag hatte man Lautsprecher in den Bäumen versteckt, aus denen Vogelschreie und Flügelschlagen ertönte.

 

IMDB: 7.6 von 10

Letterboxd-Rating: 3.8 von 5                                                                                                      

Neft-Rating: 4.5 von 5

 

// HOPSYS GEDANKEN

 

Haben die Vögel im Film eine tiefere Bedeutung? Stehen sie für etwas anderes? Eine uns heute naheliegende Betrachtungsweise wäre eine „Die Natur schlägt zurück“-Metapher. Der Mensch beutet die Umwelt aus, zerstört Lebensformen und hält sich Vögel in kleinen Käfigen, um sie wie Waren zu verkaufen. Kein Wunder, wenn den Piepmätzen irgendwann der Kragen platzt. Eine solche Botschaft findet sich eindeutiger in späteren Tierhorrorfilmen wie zum Beispiel „Frogs“ (1972), Orca, der Killerwall“ (1977), „Panik in der Sierra Nova“ (1977) „Prophezeiung“ (1979) oder „Wolfen“ (1981). In früheren Filmen des Tierhorror-Subgenres – z.B. „Godzilla“ (1954), „Formicula“ (1954) oder „Tarantula“ (1955) – repräsentieren die ins Gigantische mutierten Tiere  hingegen vor allem die Angst vor der Atomenergie und der Atombombe. In der Geschichte von Daphne du Maurier wiederum könnte man die Vögel als Verkörperung von Kriegsneurosen lesen, namentlich in einem von der deutschen Luftwaffe terrorisierten England.

 

Aber ging es Hitchcock, der vor allem packende Filme drehen wollte, wirklich zusätzlich um eine Mahnung vor Krieg und Umweltzerstörung? Zu seinen sonstigen Filmen würde es nicht passen. Andere Interpret*innen schlugen deshalb andere Lesarten vor. Liegt die eigentliche Geschichte eines Horrorfilms nicht immer in dem Nicht-Horror-Teil der Handlung verborgen? In dem, was nicht monströs oder phantastisch ist? Wenn dem so wäre, dann stehen die Vögel vielleicht für die nur halb bewusste Wut einer Mutter, die nach dem Tod ihres Mannes ihren erwachsenen Sohn nicht hergeben will. Oder für die Zerrissenheit eben dieses Sohnes zwischen Mutter und Geliebter. Für diese Interpretation spricht, dass die Vögel Ruhe geben, als Mutter, Sohn und Geliebte versöhnt im Auto sitzen. Aber wir wissen nicht, wie lange sie friedlich bleiben, denn ihre Attacken kamen auch vorher in Wellen. Und ob Hitchcock, der der Psychoanalyse sehr skeptisch gegenüberstand, wirklich einen Film mit dem Subtext „Ödipuskomplex“ hatte drehen wollen? 

 

Die antike griechische Tragödie von Ödipus ist schon interessant und sollte Horrorfans ein Begriff sein: Ein König erhält die Prophezeiung, dass ihn sein neugeborener Sohn eines Tages umbringen und mit seiner eigenen Mutter, der Frau des Königs, schlafen wird. Um das zu verhindern, setzt der König den kleinen Ödipus („Schwellfuß“) aus. Das Baby stirbt aber nicht, sondern trifft als erwachsener Mann seinen Vater und erschlägt ihn im Streit, ohne dass der eine weiß, er der andere ist. Daraufhin wird Ödipus König, heiratet seine Mutter Iokaste und … die ganze Stadt Theben wird von den Göttern gestraft. Nicht durch wildgewordene Vögel, sondern durch eine Seuche. Unwissenheit schützt vor Strafe nicht. Wo göttliche Gebote übertreten werden, da erscheinen Krankheiten oder Monster. Das Wort „Monster“ geht auf das lateinische „monere“ zurück, das „erinnern“ und „mahnen“ bedeutet. Eine für Horrorfilme ergiebige Etymologie: Da wo Individuen oder eine Gemeinschaft oder ganze Gesellschaft vom rechten Weg abweichen, erscheint das Monströse als dunkler Bote der Götter, um Strafe und Rechtleitung miteinander zu verbinden. Entsprechend mutmaßen auch manche Menschen im Film, dass die Vogelangriffe eine Strafe Gottes sind, vielleicht sogar ein Zeichen für das nahestehende jüngste Gericht. 

 

Laut dem slowenischen Philosophen Slavoj Žižek lässt sich die Angriffslust der Vögel aber nicht nur gut als „inzestuöse Aggression“ eines wütenden Mutter-Über-Ichs deuten, wie er im Dokumentarfilm „Pervert’s Guide to Cinema“ ausführt. Vielmehr gäbe es eine noch radikalere Sichtweise auf „Die Vögel“. Im dem von ihm herausgegebenen Buch „Was Sie schon immer über Lacan wissen wollten und Hitchcock nie zu fragen wagten“ (Suhrkamp 2002, Erstausgabe erschien 1988 auf Französisch), interpretiert Žižek die Vöfel des Films als „das Reale“. Der Begriff meint in der Theorie des französischen Psychoanalytikers Jacques Lacan keinesfalls „die Realität“, sondern das, was auf die menschliche Psyche wirkt und weder symbolisch noch imaginär ist. Ein nicht verarbeitetes Trauma ließe sich in diesem Sinne als „real“ bezeichnen, oder vielleicht auch eine menschliche Erfahrung ohne Vermittlung durch kulturelle Symbole und die Zugabe eigener Vorstellungen. So weit ich es verstanden habe. Die Vögel in Hitchcocks Film ließen sich dann als etwas in unser Leben Hereinbrechendes betrachten, das wir nicht verstehen oder deuten, sondern nur erfahren können. „Das Reale“ entzieht sich dem Denken und der Sprache, weil es unserer Vorstellung nach unmöglich ist und nicht "begriffen" werden kann. Aber nicht nur im Horrorfilm bleibt das Unmögliche für uns Menschen immer eine Möglichkeit. Schließlich gibt es so vieles, was wir nicht verstehen.

 

Wer nun neugierig geworden ist und etwas tiefer in den Zusammenhang von Horror, dem „Realen“ und Žižeks Philosophie eintauchen möchte, dem empfehle ich: „The Horror of the Real: Žižek’s Modern Gothic“ (von Benjamin Noys)

P.S.: Hitchcock selbst lieferte keine Erklärung für das fiese Verhalten der Vögel in seinem Film. Der Theologe und Hitchcock-Biograf Donald Spoto interpretiert das Freidrehen der Flattermänner als Manifestation zwischenmenschlicher Probleme, vor allem der Instabilität von Beziehungen. Einmal wollte er es genauer wissen und sprach Hitchcock auf die Häufung des Vogel-Motivs in seinen Filmen an. Die knappe „Antwort“ des Regisseurs: „Seltsam, nicht wahr?“ (Donald Spoto: Alfred Hitchcock. Die dunkle Seite des Genies. Heyne, München 1986, S. 386)

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