· 

Longlegs

Killer-Thriller, Okkulthorror und finstere Bestandsaufnahme

 Kanada, USA 2024    

 Regie: Osgood Perkins                          

 Laufzeit: 101 Minuten

 

Handlung: Oregon in den 1990ern: Die frischgebackene FBI-Agentin Lee Harker scheint über hellseherische Fähigkeiten zu verfügen. Deshalb setzt sie ihr Chef auf eine seit drei Jahrzehnten ungelöste Mordserie an, die sogenannten „Geburtstagsmorde“. Scheinbar normale Väter bringen erst ihre Frau und Kinder und dann sich selbst um. Das FBI geht von einem Serienmörder aus, weil alle Familien vorher eine Glückwunschkarte von „Longlegs“ erhalten haben. Allerdings ist völlig unklar, wie die Person hinter diesem Namen Einfluss auf die Familienväter genommen haben soll. Lee Harker braucht nicht lange, um herauszufinden, dass alle Familien mindestens eine neunjährige Tochter hatten, deren Geburtstag auf einen 14. in einem der zwölf Monate fällt, und dass die Morde innerhalb von sechs Tagen vor oder nach dem Geburtstag stattfinden. Sie vermutet okkultistische Motive und muss schließlich erkennen, dass Longlegs mehr über sie weiß, als er sollte.  

 

Besprechung: In diesem Jahr feiert der Gottseibeiuns fröhliche Urstände im Horrorkino. Ob in "Immaculate", "Das Erste Omen", "Late Night with the Devil", "MaXXXine" oder eben Longlegs: Mit dem Teufel und/oder seinen Anbeter*innen ist (wieder) zu rechnen. Eine weitere Gemeinsamkeit von zumindest vier dieser Filme ist: Christentum und Satanismus sind die zwei Kehrseiten der gleichen Medaille und bedingen sich gegenseitig. Irgendetwas scheint da in der Luft zu liegen: Vielleicht die Beobachtung, dass sich verfeindete Lager gegenseitig benötigen, um ihre je eigene Existenz und die eigenen Herrschaftsansprüche zu rechtfertigen.

 

Longlegs ist nun der Film, der im Vorfeld den größten Hype verursacht hat, und das will bei einem neuen Omen-Film, Late Night with the Devil und MaXXXine schon was heißen. Rätselhafte Codes auf Instagram, gekürzte Trailer, Poster mit Sprüchen wie „Der gruseligste Horrorfilm der Dekade“ oder „Der beste Serienkiller Film seit Das Schweigen der Lämmer“ sowie eine extra eingerichtete Homepage, die die Geburtstagsmorde im Stil alter Internetpräsenzen dokumentiert, zeugen von findigem Marketing und ließen bei Fans die Herzen höherschlagen. Und dann auch noch Maika Monroe (u.a. „It Follows“, „Watcher“ und „Significant Other“) und Nicolas Cage im gleichen Film, der Serienmörder-Thriller und Okkulthorror zu mixen verspricht. 

 

Osgood Perkins, der Sohn von Anthony Perkins, hat als Regisseur bisher mit den ambitionierten und düsteren Horrorfilmen „The Blackcoat’s Daughter“ und „I Am the Pretty Thing That Lives in the House“ auf sich aufmerksam gemacht. Beide Filme zeichneten sich vor allem durch eine dichte Atmosphäre, weniger durch ein zwingendes (jeweils von Perkins geschriebenes) Drehbuch aus, auch wenn „The Blackcoat’s Daughter“ eine durchaus durchdachte Geschichte zu erzählen weiß. 

 

Auch Longlegs besticht durch Atmosphäre. Die erste Sequenz ist ein Hammer und erzeugt eine eigenwillig angsteinflößende Stimmung, die eine ganze Weile nachhallt. Intuitiv versteht man: Nichts in dieser Welt ist heil, nichts ist sicher. Die Unschuld der Kindheit ist kein Schutzschild und das Böse kann nebenan wohnen, ohne dass es jemand erkennt oder versteht. Es ist die Stärke des Films, diese Bedrohung durch eine überraschende Tonspur und etliche gut eingefangene Bilder jenseits bewusster Überlegungen fühlbar zu machen. Darin gleicht er tatsächlich Klassikern, allerdings weniger einem Das Schweigen der Lämmer oder dem nassforsch in der Werbung nicht erwähnten Sieben, sondern eher „Der Exorzist“ oder „Shining“. Oder auch dem japanischen Film „Cure“. Mit diesen Filmen hat „Longlegs“ auch gemein, dass er psychologischen und übernatürlichen Horror mischt.  Was bei den Klassikern aber perfekt zusammenpasst und sich im letzten Drittel steigert, droht bei „Longlegs“ nach hinten raus zunehmend in seine Einzelteile zu zerfallen. Maika Monroe mit ihrer ernsten, bedrückten Darstellung hält den Film noch am ehesten zusammen. Nicolas Cage ist wieder im Freak-Modus, und es liegt im Auge der Betrachter*innen, ob sie seine Figur besonders gruselig oder besonders albern finden. Auf jeden Fall wirkt sie in Charakterisierung und Motivation weit weniger stimmig als ein Hannibal Lector oder John Doe, allein schon, weil sie komplett auffällig und desorganisiett wirkt. So jemand würde im Handumdrehen geschnappt. Und zu interessanten Interaktionen zwischen Heldin bzw. Helden und Killer wie eben im „Schweigen der Lämmer“ oder „Sieben“ kommt es hier leider kaum. 

 

Wie bei so vielen Horrorfilmen war ich im ersten Drittel gefesselt, im zweiten interessiert und im letzten enttäuscht. „Longlegs“ hat einiges an Potenzial, ist aber weder so originell noch so rundum packend, wie es der Hype nahelegt. Den hier im Text erwähnten Klassikern dürfte „Longlegs“ auch bei schlimmstem Nachdurst kein Glas Wasser reichen. Man wird es daran sehen, dass der Film anders als beispielsweise "Midsommar", in ein, zwei Jahren kaum noch erwähnt werden wird. Glaube ich. Das soll aber niemanden davon abhalten, sich „Longlegs“ anzusehen. Am besten im Kino. Denn er hält ein paar Schmankerl bereit, die gerade auf großer Leinwand ihre Wirkung entfalten.   

 

Trivia: Es heißt, dass sowohl „Oz“ Perkins als auch „The Cage“ den Film ihren Müttern widmen. Keine Ahnung, was die davon halten würden.

Osgood Perkins Mutter erzählte ihrem Sohn in jungen Jahren eine verharmlosende und falsche Geschichte über den an AIDS sterbenden Vater, der laut Perkins sehr wahrscheinlich homosexuell oder bisexuell gewesen ist. Das, was der kleine Perkins zuhause wahrnahm, und dass, was er erzählt bekam, lag miteinander im Widerstreit. Diese Unstimmigkeit wollte er auch in „Longlegs“ transportieren.

 

Die verschlüsselten Botschaften von Longlegs enthalten Rechtschreib- und Grammatikfehler, wie die des real existierenden und nie gefassten Zodiac-Killers. Auch zitiert Longlegs in seinen Botschaften das fiese Gedicht „Satan Says“ von Sharon Olds.

 

Das Budget des Films lag bei 10 Millionen Dollar, von denen 5 Millionen an Nicolas Cage gingen. Die Marketingkampagne war mit fast 7 Millionen Dollar fast so teuer wie der Film. 

 

Um den Film zu promoten, verbreitete die amerikanische Vertriebsfirma Neon eine Telefonnummer (4586664355). Wer dort anrief, bekam eine verstörende Message von Nicolas Cage zu hören.  

 

IMDB: 7.3 von 10

Letterboxd-Rating: 3.6 von 5                                                                                                      

Neft-Rating: 3.5 von 5

 

// HOPSYS GEDANKEN

 

Hier möchte ich ein paar persönliche und sicher teilweise spekulative Gedanken dazu teilen, warum die Teufelsanbeter im Horrorkino wieder eine größere Rolle spielen und inwiefern gerade „Longlegs“ den westlichen oder zumindest US-amerikanischen Zeitgeist widerspiegeln dürfte. 

 

Hierzu kurz ein paar Ausführungen zum christlichen Teufel selbst, der in der Bibel eine beachtliche Karriere hingelegt hat: von Gottes Außendienstmitarbeiter im Alten Testament (siehe Hiob) über den Versucher Jesu im Neuen Testament, der sich als Herr der irdischen Welt zu erkennen gibt, bis zum Biest der Offenbarung, das in der Apokalypse als großes Endgegner von Gott endgültig besiegt wird. Die katholische und später auch protestantische Kirche hat die Macht des Teufels einerseits in der Regel ignoriert oder heruntergespielt, um nicht in die Nähe eines dualistischen Weltbildes zu kommen, in dem Gott und Teufel etwa gleichstark sind, oder etwa der Teufel die Welt geschaffen hat (wie in gnostischen Religionen wie dem Manichäismus). Andererseits war es ein beliebtes Mittel, Abweichler und Minderheiten als „Teufelsanbeter“ zu brandmarken, die den gesellschaftlichen Frieden untergruben. Als manichäische Christen wie die Katharer zu sehr an Einfluss gewannen, erklärte man sie zu Ketzern und rottete sie fast vollständig aus. Als die Tempelritter durch ihre Bankgeschäfte zu viel weltliche Macht erreichten, erklärte man sie zu Teufelsanbetern und machte ihnen den Prozess. Später wurden Juden, Hebammen, Geisteskranke und schließlich im Zuge des „Hexenwahns“ alle, die das Pech hatten, zu Teufelsanbetern erklärt und manchmal auch mit dieser Begründung umgebracht. In der Literatur der Frühen Neuzeit und der Romantik wurde der Teufel dann jedoch zur von Gott verstoßenen Rebellenfigur und seine Anhänger zu tragischen Kämpfern für die Freiheit des Individuums von der Geißel der etablierten Machtverhältnisse. Ob in „Paradise Lost“ von John Milton oder „Prometheus Unbound“ von Percy Shelly: Satan wurde zum düsteren Anwalt einer Menschheit die von Mächtigen „von Gottes Gnaden“ unterdrückt wurde.

 

Nun zu „Longlegs“: Der Teufelsanbeter hier ist eindeutig ein Ausgestoßener. Sicher auch ein psychisch Kranker und obendrein optisch deformierter Freak. Er ist das Andere, das Unerwünschte, das Abgesonderte. Er hört Glam-Rock und lebt in einer Man-Cave. Er repräsentiert das, was die saubere Mehrheitsgesellschaft nicht haben will: den durchgeknallten Hillbilly und psychisch kranken Mann. Gleichzeitig repräsentiert er so aber auch eine Identifikationsfigur für die vielen Menschen in westlich-kapitalistischen Gesellschaften, die sich isoliert, abgewertet und verspottet vorkommen. Sie sind die ökonomisch oder kulturell Abgehängten. Die, die nicht mithalten können. Aber der Teufel steht auf ihrer Seite. Die Apokalypse war schon für die unterdrückte Minderheit der frühen Christen attraktiv. Im Mittelalter rekrutierten Endzeitsekten vor allem die ärmeren und unprivilegierteren Bevölkerungsschichten. Der Umsturz der Verhältnisse war eine Verheißung.

 

In „Longlegs“ sehen wir ein Amerika der Vergangenheit (Clinton-Ära) und doch bebildert es natürlich die Ängste von heute: Wem kann ich in einem zwischen Armen und Reichen, zwischen Trumpfans und woken Student*innen, zwischen proud-boys und Feministinnen zerriebenen Amerika noch trauen? Werden nicht zunehmend mehr Menschen verrückt und verabschieden sich in okkult anmutende Parallelgesellschaften? In „Longlegs“ herrscht ein ständiges Gefühl der Verunsicherung vor. Offene Räume wirken bedrohlich, geschlossene ebenfalls. Ein Hausbewohner kann ohne Vorwarnung das Feuer auf einen FBI-Agenten eröffnen. Anscheinend normale Familienväter werden plötzlich zu Mördern. Im Großen der Gesellschaft wie im Kleinen der Kernfamilie ist niemand mehr sicher. Gewalt und Wahnsinn lauern um jede Ecke und nisten mittendrin in einer fassadenhaften Normalität, die Menschen wie „Longlegs“ abgestoßen hat, aber natürlich nicht losgeworden ist. Schlimmer noch: „Longlegs“ hat unerwartete Unterstützung. Der wahnsinnige Außenseiter sitzt tatsächlich im Zentrum der Gesellschaft, seine unheimliche Verbindung zu Satan ist keine zufällige Verirrung, sondern eng verknüpft mit der Gottesfurcht vieler US-Amerikaner. Und die Manipulation unserer Gehirne allgegenwärtig.

 

Wie schon in der Apokalypse des Johannes spielen Symbole und Zahlenrätsel in „Longlegs“ eine wichtige Rolle. Alles verweist noch auf etwas anderes. Die Welt ist zu einem Dechiffrier-Spiel geworden, nur dass diesmal kein Kampf zwischen Licht und Finsternis verklausuliert wird. Vielmehr werden wir durch das Spiel mit Symbolen und Chiffren selbst Teil einer paranoiden, an ihren Widersprüchen wahnsinnig gewordenen Gesellschaft, die droht im Chaos zu versinken. Es ist nicht verstiegen, dabei ängstlich an die USA unserer Tage zu denken. 

 

Mailt mir gerne eure eigenen Gedanken zu dieser Betrachtung und zu „Longlegs“, wenn ihr den Film gesehen habt. Ich werde ihn bald noch einmal gucken, und womöglich hebe ich das Rating danach noch an.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0