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Midsommar

Überragender Folkhorror

 USA 2019    

 Regie: Ari Aster                          

 Laufzeit: 147 Minuten

 

Handlung: Die junge Dani reist nach einer fürchterlichen Tragödie mit ihrem Freund Chris und dessen Jungs-Clique nach Schweden, um dort in einer kleinen Kommune Midsommar zu feiern. Dabei haben mindestens zwei der jungen Männer anthropologische Ambitionen und planen, ihre Diplomarbeit über die Festivitäten der Gruppe im ländlichen Schweden zu schreiben. Und sie werden nicht enttäuscht, denn der Ort ist so idyllisch wie die Rituale bizarr. Vor allem für die traumatisierte Dani ist die archaische Gemeinschaft eine Herausforderung, zumal ihr Freund und dessen Kumpel sie eigentlich gar nicht mitnehmen wollten.

 

Besprechung: Hin und wieder sieht man einen Horrorfilm und weiß früh: Das ist etwas ganz Besonderes. Hier werden nicht hundertfach erprobte Muster und Effekte genutzt. Hier hat jemand etwas ganz Eigenes geschaffen. Ari Aster hat für sein Debüt „Hereditary“ viel Lob bekommen. Mit „Midsommar“ ist ihm in meinen Augen ein moderner Klassiker gelungenn, der den Erstling noch übertrifft. Da ist zum einen Florence Pugh als Dani, die ihre fordernde Rolle so natürlich und gewinnend spielt, dass man von Anfang an gefesselt ist. Ihre Charakterentwicklung während des Films ist faszinierend genug, um den Film auch Nicht-Horrorguckern ans Herz legen zu können. Dazu kommt eine einzigartige Atmosphäre, die sich vor allem der formalen Gestaltung verdankt und doch mehr ist als die Summe dieser Teile: Der Score ist großartig und mixt fast konventionelle Filmmusik mit bedrohlichen Klangcollagen und folkloristischer Musik, der auch etwas Dumpfes und Melancholisches innewohnt.  Die Kameraarbeit ist in jeder Minute durchdacht und schafft immer wieder Einstellungen, die wie Gemälde wirken. Das lichtdurchflutete ländliche Schweden, die Holzhäuser, die Anhänger eines alten Kultes in ihren weißen Gewändern: Das hat man so noch nicht gesehen und erlebt. Vielleicht denkt man ein wenig an „The Wicker Man“ von 1973 oder an Picknick am Valentinstag (1975), atmosphärisch auch ein wenig an Polanskis „Macbeth“ (1971), sonst fällt mir aber kein Film ein, der auch nur in die Nähe dieser entrückten und zugleich sehr bedrohlichen Atmosphäre kommt.

 

Eine weitere Stärke von „Midsommar“ ist der Einstieg, der enorm realistisch wirkt. Die Gespräche zwischen Dani und Chris oder Dani und einer Freundin am Telefon sind wie aus dem echten Leben entnommen. Die Beklemmung beginnt früh und ganz ohne dunkle Kulte oder andere horrorfilm-typische Bedrohungen. Das Verstörende ist der ganz normale Alltag, in dem sich Menschen einfach nicht wirklich nah sind. Und wenn eine Katastrophe passiert, rutscht man an den freundlichen Fassaden des Umfeldes nur noch ab. 

 

Der Film ist lang. Im Director‘s Cut sogar 171 Minuten. Und er ist langsam. Er lässt sich für viele Einstellungen viel Zeit. Die schwedische Gemeinschaft ist nicht nur Kulisse, wir tauchen in sie ein, leben mit ihr, fühlen Situationen nach, anstatt sie nur kurz gezeigt zu bekommen, damit der nächste plotpoint oder jumpscare eingeleitet wird. Das ist kein Kino für die Massen und nichts für nervöse Gemüter, die sich schnell mal ablenken wollen. Tatsächlich ist es ein Kunstwerk, das nicht nur formal außergewöhnlich ist, sondern auch inhaltlich etwas Bedeutsames zu erzählen hat.

 

Als Horrorfilm ist der Film einerseits zurückhaltend, enthält andererseits aber einige verstörende Szenen, die es in sich haben. Wenn es hier brutal wird, dann wird es auch wirklich brutal. Vielmehr noch lebt der Film aber von einer konstanten, schwer zu greifenden Ungemütlichkeit und einer Konsequenz, die im Kino nicht so oft zu erleben ist. Ein Meisterwerk. 

 

Trivia: Gedreht wurde der Film größtenteils in Ungarn, da man in Schweden nur acht Stunden am Tag drehen darf, was für die Filmcrew finanziell ungünstig gewesen wäre. 

 

Nicht wenige schwedische Kinobesucher lachten bei dem Film, der ihnen wie eine groteske Parodie auf das Brauchtum ihres Landes vorkam. Sie nahmen „Midsommar“ als schwarze Komödie wahr. Andere fanden das gezeigte Bild von Schweden absurd und ärgerlich.

 

Der Film mischt authentische schwedische Bräuche und Folklore mit Phantasien und Legenden, die von anderen Kulturen im Mittelalter über Schweden erzählt wurden, um die Landesbewohner als barbarisch darzustellen.  

 

In dem Film wird von „Maikönigin“ gesprochen, was in Bezug auf das im Juni stattfindende Midsommar-Fest verwirrend ist. Es handelt sich um eine Fehlübersetzung. Das schwedische Wort „maya“ bedeutet „mit Blumen geschmückt“

 

IMDB: 7.1 von 10

Letterboxd-Rating: 3.8 von 5                                                                                                      

Neft-Rating: 5 von 5

 

// HOPSYS GEDANKEN (Achtung, Spoiler)

 

Die in weißen Gewändern auf grünen Wiesen einherschreitenden Mitglieder des Kultes in „Midsommar“ wirken völlig aus der Zeit gefallen. Mal muss man ans Auenland und eine extreme Form von Bullerbü denken, mal an Naziphantasien und Gemälde des 19. Jahrhunderts, die altes Landleben idealisieren. Sympathisch fand ich die Gemeinschaft nicht. Dazu wirkt sie viel zu steril, beherrscht, fast automatenhaft. Alles ist vorgezeichnet, hat seinen Platz, für das Individuelle ist kaum Raum. Das Unheimliche und zugleich Geniale an dem Film ist, dass die sympathische Hauptfigur schließlich diese sektenhafte Gemeinschaft ihrem bisherigen Leben vorzieht und die Frage aufkommt: Sind die liberalen Larifari-Pseudofreunde, mit denen Dani bisher auskommen musste, nicht noch schlimmer? Ist unser modernes Leben vielleicht schon so entfremdet, lebensfern, verantwortungslos und unverbindlich, dass ein psychisch schwer angeschlagener Mensch darin keinerlei Halt mehr findet? Bietet die Sekte bei aller angeblich naturnahen Grausamkeit und Unterordnung des Individuums unter die Gemeinschaft nicht immerhin Geborgenheit und den Trost einer echten Zugehörigkeit

 

Ari Aster trifft hier in meinen Augen einen wichtigen und unangenehmen Punkt aktueller Debatten: Könnte es sein, dass unser westliches Lebensmodell bei aller Freiheit zu unverbindlich und unklar ist, um gerade psychisch geforderten Individuen eine Heimat zu bieten? Suchen diese Menschen ihre Zugehörigkeit vielleicht gerade deswegen in rechts- oder linksextremen Kulten, nationalistischen Ideologien, esoterischen Zirkeln oder populistischen Parteien, die mit simplen Gut-Böse-Zuschreibungen arbeiten? 

 

Und würden wir nicht gerne alle einmal wie Dani mit einer Gemeinschaft gemeinsam unseren Schmerz in die Welt schreien, wie ein Organismus, eine unhinterfragte selbstverständliche Verbundenheit?

 

Die inhaltliche Stärke von Midsommar ist in meinen Augen vor allem, dass der archaische Kult keinesfalls glorifiziert, sondern in seiner ganzen Fragwürdigkeit dargestellt wird. Er bietet keine wirkliche Befreiung. Aber die „Freunde“ von Dani sind eben auch keine Alternative. Es sind diese liberalen, nach außen soften und verständnisvollen jungen Männer, die wissen, was man sagt, wie man lächelt und wie man Empathie vorspielt. Sie stehen für die Privilegierten dieser Erde, die sich zivilisiert geben und wissen, was Moral ist. Die aber das Leiden anderer nicht fühlen und letztlich  ob an der Uni, in der Politik oder den höheren Etagen der Wirtschaft nur das eigene Fortkommen im Auge haben. Übler ichbezogener Machthunger verborgen hinter einer Fassade der Menschlichkeit, die nur Mittel zum Zweck ist. Sie sind die logischen Ausgeburten einer kapitalistischen Konkurrenzsituation, in der Nettigkeit eben nur ein Marketingtool und Verantwortungslosigkeit eine clevere Haltung ist.  Den „zurückgebliebenen“ Kultisten haben diese glatten Bubis jedoch nichts entgegenzusetzen. Wer hierin gruselige Parallelen zu drängenden Fragen unserer Zeit sieht, liegt sicher nicht falsch. 

 

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