Gut gefilmt, aber arg bedeutungsschwanger
• Vereinigtes Königreich 2022
• Regie: Alex Garland
• Laufzeit: 100 Minuten
Handlung: Harper gönnt sich nach einer destruktiven Beziehung mit üblem Ende eine Auszeit auf einem gediegenen englischen Landsitz. Der Landlord ist ein ziemlicher Kauz, und auch die anderen (rein männlichen) Bewohner des kleinen Ortes wirken nicht rundum vertrauenswürdig. Und dann taucht auch noch ein nackter Mann im Wald auf und scheint Harper bis zu ihrer Ferienunterkunft zu verfolgen.
Besprechung: Beim zweiten Gucken des Films erging es mir genauso wie beim ersten Mal: Ich war gleich gefesselt von der charismatischen Hauptdarstellerin, der toll fotografierten englischen Landschaft, dem an eine Loriot-Figur erinnernden Landlord und dieser ganzen britischen Atmosphäre mit alter Steinkirche und Pub. Auch wie sich das schaurige Element sehr langsam in den Film schleicht und mit dem Drama einer Beziehung zu einem extrem kontrollsüchtigen Mann parallel geschnitten wird, hat mich eingenommen. Aber spätestens im letzten Drittel verliert mich der Film, auch wenn er jetzt die Horrorszenen auffährt, die durchaus sehenswert sind. Gerade die Geburtsszenen sind stark gemacht. Das Problem ist auch nicht die Bildwelt des Films, sondern die Absicht hinter der Geschichte und wie diese verpackt wird.
Im intellektuellen Kern ist „Men“ eine Satire, die sich selbst ein bisschen zu ernst nimmt. Die teilweise ziemlich bedeutungsschwangere Musik und Metaphorik nehmen dem Film einiges an Leichtigkeit und lassen den ohnehin flachen Titel plakativ und generalisierend erscheinen. Damit bürdet sich der Film unnötig viel auf, da er inhaltlich nicht tiefsinnig und ambivalent genug für die „elevated“ und „artsy“ Schiene ist. Als Komödie hätte der Stoff in meinen Augen viel besser funktioniert. Allein der nackte Mann, der im Garten rumhampelt, hat ja nicht nur verstörendes, sondern auch humoristisches Potential. Als Aufhänger für eine Diskussion über kontrollierende Männer und ihre Funktion im Patriachat ist "Men" trotzdem nicht schlecht, und die darstellerischen Leistungen versöhnen mich ein wenig damit, dass der Film irgendwann redundant und unterkomplex wirkt. Hauptdarstellerin Jessie Buckley, bekannt unter anderem aus der vierten Staffel der Fargo-Serie und dem großartigen "I’m thinking of ending things", gibt eine facettenreiche und sympathische Performance, und Rory Kinnear glänzt unterhaltsam in mehreren Männerrollen. Gerade als Priester finde ich ihn ziemlich toll.
Kurzum: Interessant, aber nicht wirklich befriedigend.
P.S.: Ein Film namens „Women“, der auf belehrende Art toxische Weiblichkeit ausstellt, würde wahrscheinlich von noch mehr Menschen als holzschnittartig und peinlich wahrgenommen werden.
Trivia: Im Film taucht öfter Löwenzahn in seiner Pusteblumenform auf. Löwenzahn pflanzt sich eingeschlechtlich fort, nämlich durch sogenannte Parthenogenese (altgriechisch für „Jungfrauengeburt“). Für diese Art der Fortpflanzung ist keine Befruchtung nötig und alle Exemplare der Spezies sind im Prinzip Klone von einer Urform.
Auf dem Altar in der alten Kirche sind zwei Figuren zu sehen, die aus der englischen Folklore bekannt sind: Der grüne Mann und eine weibliche Figur namens Sheela na gig, was man aus dem Irischen mit „Julia von den Brüsten“ übersetzen könnte. Diese Frauenfiguren finden sich ab dem Hochmittelalter in englischen und irischen Kirchen und sollen das Böse und den Tod abgewehrt haben. Welche Rolle dabei die von ihnen deutlich präsentierte Vulva gespielt hat, ist umstritten. Der grüne Mann wiederum findet sich ebenfalls in Kirchen aus dem Mittelalter und der frühen Neuzeit und geht vermutlich auf heidnische Traditionen zurück. Es könnte sich um eine Waldgottheit wie den römischen „Silvanus“ handeln.
Der Priester im Film zitiert unter anderem aus dem Gedicht „Leda und der Schwan“ und bezeichnet sich selbst als Schwan. In der griechischen Mythologie hat sich Göttervater Zeus in einen Schwan verwandelt und in dieser Gestalt die Spartanerkönigin Leda vergewaltigt.
IMDB: 6.1 von 10
Letterboxd-Rating: 2.8 von 5
Neft-Rating: 2.5 von 5
// HOPSYS GEDANKEN
In “Men“ erleben wir in Flashbacks Szenen aus der Partnerschaft der weiblichen Hauptfigur. Ihr Freund droht, sich umzubringen, wenn sie ihn verlässt. Sie aber sagt, dass es genau diese Drohungen und Erpressungen sind, die sie zur Trennung bewegen. Und dass sie sich das nicht länger gefallen lässt. Wenige Tage später kontrolliert der Verlassene das Telefon seiner Ex-Partnerin. Sie stellt ihn wütend zur Rede. Es kommt zum Streit. Er schlägt ihr mit der Faust ins Gesicht. Ist das, was hier gezeigt wird, realistisch? Ist es vielleicht sogar typisch, wenn es um häusliche Gewalt durch Männer an Frauen geht?
Ursachenforschung zum Thema „häusliche Gewalt“ betreiben Psycholog*innen schon länger. Es gibt Frauenhäuser, und es gibt Therapien und Selbsthilfegruppen für Männer, die gewalttätig geworden sind. Auch hat die Bundesregierung 2023 eine große Dunkelfeldstudie zu „Gewaltvorkommnissen in Deutschland“ in Auftrag gegeben, für die rund 22.000 Menschen befragt werden.
Silke Schwarz von der Fachstelle „Traumanetz“ erklärt, dass viele Täter in der Kindheit selbst (körperliche) Gewalt erfahren haben. Dabei müssen nicht unbedingt sie selbst geschlagen worden sein. Durchaus üblich ist, dass sie das gewalttätige Verhalten vom eigenen Vater gegenüber der Mutter beobachtet haben. Die Kompetenzen, Konflikte gewaltfrei zu lösen, haben laut Schwarz viele Täter nicht. Dazu kommt, wie so oft, dass Alkohol und andere Drogen enthemmend wirken, und Menschen, die eh dazu neigen ihre Emotionen gewalttätig auszudrücken, im berauschten Zustand noch weniger Kontrolle über ihre Impulse haben. Laut Schwarz spielen auch psychische Krankheiten eine wichtige Rolle, vor allem krankhafte Selbstwertprobleme und narzisstische Persönlichkeitsstörungen. [Der Zusammenhang von eigenen Gewalterfahrungen als Kind und späterem gewalttätigen Ausagieren oder einer höheren Toleranz dafür, sich gewalttätig behandeln zu lassen, ist allerdings komplex. Wer sich tiefer einlesen will, findet hier eine wichtige Studie.]
Das Meiste davon scheint auf den Partner in „Men“ nicht unbedingt zuzutreffen. Alkohol oder eigene Gewalterfahrungen als Kind werden in Bezug auf ihn nicht thematisiert. Auch wirkt er nicht so, als ob er keinerlei soziale Kompetenzen hat. Vielmehr vermittelt er den Eindruck, dass er sich selbst als Opfer sieht, die Trennungsabsicht seiner Partnerin als existenziell bedrohlich wahrnimmt und seine extreme Abhängigkeit durch Selbstmord-Drohungen, Kontrolle, Manipulation, Täter-Opfer-Umkehr und körperliche Gewalt zu kompensieren versucht. Was würden Menschen, die mit in ihrer Partnerschaft gewalttätigen Männern arbeiten, über so eine Filmfigur sagen?
Der Sozialpädagoge Mario Stahr, der gewalttätigen Männer Anti-Gewalt-Trainings gibt, unterscheidet im Stern-Interview anhand von Studien verschiedene Tätertypen:
Der „Family-Only“-Typ sei angepasst, sozial unauffällig und beruflich oft erfolgreich. In der Familie aber handele er gewalttätig, wenn er verzweifelt und überfordert sei und die Kontrolle zurückgewinnen wolle, die ihm gefühlt entgleitet. Dieser Typ sei der häufigste und leider auch derjenige, der im Vergleich zu den anderen Tätergruppen die meisten Tötungen begehe.
Der „Borderline“-Typ sei sehr labil, schnell gereizt und aggressiv. In dieser Gruppe litten viele an (uneingestandenen) Depressionen, Persönlichkeitsstörungen und Suchterkrankungen.
Der dritte Typ wird als „Generally Violent“ bezeichnet. Diese Männer sind laut Stahr am gewalttätigsten. Sie haben so gut wie keine Emotionsfähigkeit, sind sehr kaltblütig und agieren sehr planvoll.
Der „Antisocial“-Typ ist laut Stahr eine Mischung aus mehreren Typen. Dieser Typ sei eher kaltherzig, empathielos und zum Teil narzisstisch, manipulativ und dominant. Manche Täter dieses Typs übten Gewalt nur in der Familie aus, andere auch in anderen Kontexten.
Außerdem erwähnt Stahr Männer aus anderen Kulturkreisen, die mit ihrer Frau nach Deutschland gekommen sind und nicht damit umgehen können, wenn ihre Partnerin sich schneller integriert, schneller die Sprache lernt, vielleicht sogar schneller einen Job hat als sie. Diese Männer seien mit anderen Werten groß geworden. Sie verzweifeln, weil sie zum Beispiel nicht mehr der Ernährer und das Familienoberhaupt sind.
Den Partner aus „Men“ könnte man gut in die erste Gruppe einordnen. Damit ist aber nicht geklärt, woher das starke Kontrollbedürfnis und die destruktive Reaktion auf die Trennungsabsicht der Partnerin kommt. Psychologisch wäre es plausibel, in der männlichen Filmfigur einen Narzissten zu sehen, da Narzissmus nicht nur mit einem starken Kontrollbedürfnis einhergeht, sondern auch mit emotionaler Erpressung, dem Ignorieren der Gefühle und Wünsche des Gegenübers und dem Umkehren der Opferrolle. [Siehe dazu hier und hier und für einen tieferen Einblick in das Thema „Narzissmus“ hier.] Auch könnte man argumentieren, dass das traditionelle Konzept von „Männlichkeit“ schnell zu einer „fragilen Männlichkeit“ führt, denn das jemand ein „echter Kerl“ ist, muss immer wieder unter Beweis gestellt werden. Wenn man Schwäche zeigt, kann einem Männlichkeit abgesprochen werden. Fühlt sich nun aber ein Mann schwach, weil er emotional von seiner Partnerin und/oder einem idealisierten Selbstbild abhängig ist, kann es sehr wahrscheinlich zu einem Verhalten kommen, wie es die Filmfigur in „Men“ zeigt: Einerseits erlebt sich der Mann als das ausgelieferte Opfer (seiner eigenen Schwäche) und gibt der Frau die Schuld dafür, die nicht nur für die Emotionen des Mannes verantwortlich, sondern auch mit (psychischer) Gewalt gefügig gemacht werden soll. Dies ist ein destruktiver und sogar widersinniger Umgang mit Schwäche: Aus Angst vor Emotionen und der damit einhergehenden Verletzbarkeit, delegiert der Mann die Verantwortung dafür an die Partnerin und macht sich damit noch viel abhängiger und schwächer. Anstatt dieses Muster zu reflektieren, wird der Mann aber wütend auf die Frau, der er selbst so viel Macht gegeben hat. Ich finde, dass „Men“ mit dieser Darstellung keineswegs allen Facetten häuslicher Gewalt gerecht wird, aber einen interessanten Aspekt männlicher Gewalttätigkeit beleuchtet: nämlich den Versuch, durch Gewalt Kontrolle und Männlichkeit aufrecht zu erhalten, wo man vorher selbst Kontrolle abgegeben hat, indem man eine Frau für die eigenen Gefühle verantwortlich macht und an eine Partnerschaft den eigenen Selbstwert (als Mann) knüpft. Wenn sich die Partnerin dann trennen will, fällt einem das eigene selbstentmachtende und gegenüber der Partnerin übergriffige Konstrukt auf die Füße. Die (falsche) Antwort darauf ist Gewalt.
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Steffelowski (Dienstag, 18 Juni 2024 10:21)
Tolle Besprechung, tolle Gedanken. Jetzt kann ich mit dem Film ne ganze Menge mehr anfangen.
Anselm (Mittwoch, 19 Juni 2024 09:30)
Das freut mich. Ich denke auch gerne an einzelne Szenen des Films zurück. Der hat schon was, auch wenn ich ihn manchmal etwas aufgeblasen und nervig finde. Generell werde ich wohl kein Garland-Fan mehr. In meinen Augen will der immer mehr als er kann.