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Picknick am Valentinstag

Schön, rätselhaft, hintergründig

Australien 1975    

 Regie: Peter Weir                           

 Laufzeit: 115 Minuten

 

Handlung: Australien 1900. Am Valentinstag macht ein Gruppe von Schülerinnen eines viktorianischen Mädcheninternats einen Ausflug zu einem uralten Felsmassiv, dem Hanging Rock. Vier von ihnen erkunden das Gelände etwas näher. Drei davon und eine Lehrerin verschwinden spurlos. Es folgt eine große Suchaktion. 

 

Besprechung: Gleich in der ersten Einstellung sieht man den Hanging Rock. Größtenteils verborgen hinter Grün wirkt der Felsen wie ein fremdartiges Wesen, älter als alles, was Menschen kennen. Dabei hat die erste Szene die Anmutung eines alten Ölgemäldes, das erst allmählich von einem Kunstwerk in ein reales Naturphänomen übergeht, und im Film immer „echter“ und weniger gemalt aussieht. Dazu erklingen Sounds, die das Gefühl von Fremdartigkeit verstärken. Bereits mit dieser Eröffnung hat mich Peter Weir komplett für seinen Film eingenommen. Kurz darauf paraphrasiert eine Mädchenstimme per Voice-Over die letzten Zeilen des Gedichts „A Dream within a Dream“ von Edgar Allan Poe: „What we see or what we seem are but a dream, a dream within a dream.“ (Im Original: „Is all that we see or seem but a dream within a dream?“). Dann sehen wir das schlafende Gesicht der schönen Miranda und hören ein mysteriös-verträumtes Motiv des rumänischen Panflötisten Gheorghe Zamfir.

 

Damit ist der Grundstein gelegt für einen der ungewöhnlichsten Horrorfilme überhaupt. Ungewöhnlich schon deshalb, weil der Film überhaupt nicht wie ein Genre-Beitrag wirkt. Größtenteils spielt er im hellen Sonnenlicht und zeigt weder Monster noch blutige Gewalttaten. Vielmehr sehen wir Mädchen auf der Schwelle zum Frausein, die wie auf präraffaelitischen Gemälden in ihren blütenweißen Kleidern in der entrückten australischen Landschaft ausschwärmen. Miranda ist die selbstsicherste unter ihnen. Sie scheint mehr zu wissen als die anderen und ist der natürliche Fixpunkt für alle. Und obendrein die Liebe von Sara, einem Waisenmädchen, das an dem Ausflug nicht teilnehmen darf. Weiß Miranda, dass sie und einige andere nicht vom Hanging Rock zurückkehren werden? Ist sie ein Botticelli-Engel, wie die Französischlehrerin sagt, die allerdings gerade in einem Buch auf die Venus von Botticelli geguckt hat? So oder so, Miranda ist eine Mittlerfigur, sei es zwischen der Welt der Menschen und der Engel oder zwischen der triebunterdrückten viktorianischen Kultur und dem kreatürlichen Drang nach Sex. Beim Picknick hat sie ihre kostbare Uhr nicht dabei, weil sie deren Ticken so nah an ihrem Herzen nicht erträgt. Ihre Gürtelschnalle ist ein Schmetterling, ein Symbol der Wandlung und auch für den Flug der Seele ins Jenseits. Im antiken Griechenland lautete der Begriff für Schmetterling „psyche“ (Hauch, Atem, Seele).

 

Auch wenn „Picknick am Valentinstag“ kaum mit den Mitteln des Gruselkinos arbeitet, ist er von einer tiefen, hintergründigen und ja auch lovecraftischen Unheimlichkeit. Was wissen wir überhaupt über uns selbst und unsere Existenz? Kennen wir unseren Platz im Universum? Verstehen wir die innere und äußere Natur? Versuchen wir vergeblich, das, was wir nicht verstehen, zu kontrollieren? Die viktorianischen Engländer*innen in ihrer steifen, überzivilisiert erscheinenden Kleidung und ihrem kulturell mühsam erlernten Habitus wirken am Fuß des Millionen Jahre alten Felsens wie drollige Fremdkörper. Die Stärke des Films liegt allerdings auch darin, dass er die Gegenüberstellung von Kultur und Natur, von Zivilisation und Wildnis, von Unterdrückung und Befreiung der Triebe nicht zu einseitig gestaltet. Gibt es vielleicht gute Gründe, warum sich der Mensch so sehr von dem, was wir Natur nennen, entfernt hat? Sind Kultur, Zivilisation und die Zurichtung des Natürlichen nicht trotz aller Kritik, die wir daran üben müssen, Schutzschilde vor einem größeren Grauen?

 

Interessant finde ich zum Beispiel, dass die strenge Internatsleiterin Mrs. Appleyard keineswegs wie ein viktorianisch unterdrückter Blaustrumpf, sondern eher wie eine weibliche Version des vitalen Oliver Reed wirkt. Man sieht ihr Kraft und Sinnenlust an, fürchtet sich vor ihr, leidet aber auch vielleicht mit ihr, wenn sie das Scheitern ihrer Konzepte vergegenwärtigen muss.     

 

Der Film spielt nicht zufällig am Valentinstag, denn das Erwachen der sinnlichen Liebe ist ein zentrales Thema. Er spielt auch nicht zufällig genau 1900, denn das war das letzte Jahr, in dem Queen Victoria noch lebte und sich das australische Commonwealth, das die Unabhängigkeit von England einleitete, noch nicht gegründet hatte. So wie das Internat im Film seinem Niedergang entgegengeht, endete auch das viktorianische Zeitalter und sein Einfluss auf Australien.

 

Es wundert nicht, dass Peter Weir mit diesem subtilen, eigenwilligen und filmisch herausragenden Werk das australische Kino international (wieder) interessant machte und dessen Renaissance einläutete. 

 

Trivia: Kameramann Russell Boyd legte bei einigen Aufnahmen einen Brautschleier über seine Kameralinse, um eine ätherische Optik zu erzeugen.

 

Der Film basiert auf dem 1967 veröffentlichten Roman „Picnic at Hanging Rock“ von der australischen Schriftstellerin Joan Lindsay. Der Verlag hatte das letzte Kapitel weggelassen, so dass die Geschichte keine Auflösung hatte. Dieses letzte Kapitel wurde erst drei Jahre nach Lindsays Tod am Valentinstag veröffentlicht.

 

Sowohl Buch als auch Verfilmung suggerieren, dass es sie auf einem tatsächlichen Ereignis beruhen. Ein solches Verschwinden von Mädchen am Hanging Rock hat aber nie stattgefunden. 

 

Es gibt seit 2018 eine sechsteilige Miniserie namens „Picnic at Hanging Rock" mit Natalie Dormer (z.B. „The Forest“) und Samara Weaving (z.B. „Ready or Not“). 

 

IMDB: 7.4 von 10

Letterboxd-Rating: 3.8 von 5                                                                                                      

Neft-Rating: 4.5 von 5

 

//HOPSYS GEDANKEN

 

Zum Film „Picknick am Valentinstag“ und auch zur Romanvorlage lassen sich ganze Doktorarbeiten schreiben, die oben erwähnten Symbole und Motive sind nur die Spitze des Eisbergs. Hier will ich mich ein wenig mit dem Konzept der „Traumzeit“ der australischen Ureinwohner befassen, das in dem Film zwar nicht explizit erwähnt wird, aber wie manch anderes in den Leerstellen des Films existiert. Interessant ist, wer am Hanging Rock verschwindet: Die Seelenführerin Miranda, die erwachte Weiblichkeit und sinnliche Liebe repräsentieren mag, aber auch die Mathematiklehrerin McCraw, die sich der Logik verpflichtet fühlt und die bebrillte Marion, die sich philosophischen Gedanken hingibt.

 

Auch die jüdische Irma Leopold verschwindet, taucht aber nach einer Woche wieder auf und erscheint schließlich im Internat. Statt der weißen Kleider wie die anderen Internatsschülerinnen trägt sie nun ein Kleid von offensivem Rot und ruft bei ihren Mitschülerinnen heftige Abwehrreaktionen hervor. Auch hierüber ließe sich lange nachdenken. Doch zurück zu den drei (jungen) Frauen, die verschwunden bleiben: Miranda, Marion und Joan McCraw eint die Neugier, die Offenheit für andere Sichtweisen und Erfahrungen, und deshalb zieht es sie zum Gipfel des mysteriösen Hanging Rock, während die anderen an seinem Fuß bleiben und im Schatten dümpeln. Auch eine weitere Schülerin folgt ihnen nach oben: Edith, die allerdings zunehmend die Lust verliert. Der Aufstieg ist ihr zu anstrengend, der Felsen nicht geheuer. Nur wenige sind offen für sein Mysterium, das womöglich auch in der Erkenntnis besteht, dass das Wissen der westlichen Zivilisation nur einer kleinen Ameise in einem riesigen Wald gleicht. Die weißen Eindringlinge und Kolonialist*innen bekommen es mit einer viel älteren Kultur und einer ganz anderen Art des Wissens zu tun: Zeit und Raum können sich in der Traumzeit zu etwas anderem verwandeln, wie eine Raupe zu einem Schmetterling. 

 

Was aber hat es mit der „Traumzeit“ der Aborigines auf sich? Zunächst einmal muss man sagen, dass die deutsche Übersetzung des Wortes Alcheringa aus der zentralaustralischen Sprache Arrernte etwas irreführend ist. Auch die Übersetzung „dreaming“, die in der englischsprachigen Ethnologie vorherrscht, trifft den Gedanken hinter alcheringa nicht so ganz, da es nicht um das Träumen im abendländischen Sinne geht. Manche Wissenschaftler*innen übersetzen das Wort auch lieber mit „ewig“ oder „ungeschaffen“. 

 

Mit Alcheringa oder ähnlichen Begriffen in anderen australischen Sprachen bezeichnen Ureinwohner*innen eine von allen indigenen Völkern Australiens  angenommene Ordnung des Universums, eine raum- und zeitlose Grundstruktur, aus der alle Erscheinungen in Raum und Zeit hervorgehen. In der „Traumzeit“ ist Vergangenes nicht vergangen, Zukünftiges bereits gegenwärtig und die Grenzen des Raumes relativ. Alle Ereignisse und Erfahrungen bilden sogenannte „Traumpfade“, die von der „Traumzeit“ geprägt sind, auf diese aber auch zurückwirken, was zu einem unablässigen Prozess ohne Anfang und Ende führt, in dem Wirklichkeit immer wieder neu entsteht, ohne dass dadurch frühere Wirklichkeiten vernichtet werden. Als vom Christentum geprägter Mensch kann man sich die „Traumzeit“ am ehesten wie den Schöpfergott vorstellen, das Alpha und Omega allen Seins. Allerdings hat der Schöpfergott das Universum einmal erschaffen und dann weitgehend sich selbst überlassen. Auch herrscht im Christentum die Idee einer linearen Zeit vor: Wir bewegen uns von der Schöpfung im Zeitstrahl vorwärts auf die Apokalypse und die Wiederkehr Jesu zu. Es ist ein Voranschreiten von A nach B. Alcheringa hingegen ist nicht personifiziert und setzt ein zyklisches Zeitverständnis voraus. Das heißt in diesem Falle: Die Gegenwart ist von der „Traumzeit“ genauso weit entfernt wie die Vergangenheit oder Zukunft. Man kann es sich vielleicht wie ein Karussell vorstellen, auf dem sich die Pferdchen zwar auf der sich drehenden Scheibe durch Raum und Zeit gleiten, die Scheibe selbst, aber auf einem statischen Boden steht.   

 

Die „Traumzeit“ manifestiert sich für die Ureinwohner Australiens in markanten Landmarken wie dem Hanging Rock, die als erstarrte Hinweise auf einstige Ereignisse gelten und an denen man Kontakt zur zeit- und raumlosen Ewigkeit des Seins aufnehmen kann. Sie wurden von Traumzeitwesen geschaffen, die nach der Schöpfung in diese Landmarken eingegangen sind. Vergangenheit und Gegenwart sind also letztlich nicht zu trennen bzw. nur aus einer Perspektive getrennt, aus der anderen miteinander in der ewigen Traumzeit verwoben.

So betrachtet ist unser Leben ein (individueller) Traum in einem (ewigen) Traum, a dream within a dream. 

 

Literaturhinweis: Mudrooroo: „Flug in die Traumzeit“. Übersetzt von Wolfgang Koehler. Unionsverlag, Zürich 1999.

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