Interessante Tour de Force eines Kleinkünstlers
• Belgien, Frankreich, Luxemburg 2004
• Regie: Fabrice du Weltz
• Laufzeit: 88 Minuten
Handlung: Ein herumreisender Alleinunterhalter gerät mit seinem Van in die sumpfigen Gebiete des Hohen Venn in Belgien, hat dort eine Panne und wird von einem schrulligen Gasthofbesitzer herzlich aufgenommen. Der verspricht dem Kleinkünstler nicht nur ein gutes Frühstück, sondern auch die Reparatur seines Busses. Tatsächlich aber führt der Gastwirt anderes im Schilde.
Besprechung: Dieser Film aus dem Jahr 2004 wirkt so, als stamme er aus dem Jahr 1974. Einzelne Szenen werden doppelt so lange gezeigt, wie man es heutzutage tun würde, das Sounddesign ist retro bis karg, der Score wird sehr zurückhaltend genutzt (ein bisschen Klavier in der Bar, ein bisschen Geige am Ende – das war‘s), die Farben sind wenig gesättigt, die Kamera geht nah an die Menschen heran wie bei einem Dokumentarfilm. Außerdem wird die durchaus gehaltvolle Handlung langsam erzählt, während heutzutage oft wenig Inhalt gerne rasant erzählt wird.
Calvaire bietet gute Darsteller, eine konsequente Inszenierung, Humor und Abgrund nah beieinander – ein durchaus beachtlicher Film, für den man allerdings etwas Geduld braucht. Auch wenn er nur 88 Minuten lang ist, wirkt er doch länger. Außerdem sollte man das verstörende Potenzial des Films nicht unterschätzen. Es hat einen Grund, warum Calvaire manchmal zur New French Extremity gerechnet wird. Auch wenn das nach Arbeit klingt: Nicht nur Cineast*innen dürften hier auch ihre Freude haben, zumal der makabre Art-House-Horror mit einer der besten Tanzszenen überhaupt entschädigt.
Calvaire ist ein besonderer Film, den man etwas sacken lassen muss. Die Art wie hier feministische Themen behandelt werden, ohne dass eine einzige Frau in dem Film vorkommt, und ohne dass in-your-face-mäßig gepredigt wird, wie in Filmen wie „Men" finde ich super. Und das Ende passt perfekt dazu.
Trivia: Regisseur Fabrice du Welz zollt in Calvaire anderen Filmen Tribut. So hat das Abendessen-Gespräch zwischen Marc und Bartel die Unterhaltung zwischen Marion Crane und Norman Bates in „Psycho" (1960) zum Vorbild. Die absurde Tanzszene wiederum hat du Welz als Hommage auf einen seiner Lieblingsfilme gestaltet, das mysteriös-phantastische Drama: „Ein Abend… ein Zug“ (1968).
IMDB: 6.1 von
10
Letterboxd-Rating: 3.2 von 5
Neft-Rating: 4 von 5
//HOPSYS GEDANKEN
Sind Künstler nicht vor allem Projektionsflächen, die letztlich schutzlos jedem Weirdo ausgeliefert sind? Und sind Frauen die Künstler der Männer, äh, ich meine Projektionsflächen, die man "liebt", also besitzen will, um sich vollständig zu fühlen? Was machen Männer, wenn keine Frauen mehr da sind und selbst die Hunde nicht zurückkommen? Und was genau bedeutet eigentlich „Projektion“ im psychologischen Sprachgebrauch? Das Wort stammt aus dem Lateinischen und geht auf proicio („hinwerfen“, vorwerfen“) zurück und meint in der Psychoanalyse ursprünglich tatsächlich eine Art Vorwurf oder Unterstellung. Wenn ich projiziere, dann sehe ich in anderen Menschen Teile meiner selbst, die ich aber nicht als eigene wahrnehmen will. Zum Beispiel bin ich voller uneingestandener Aggressionen und fühle mich von einem aggressiven Umfeld bedroht und verfolgt. Oder ich hasse (wie ich es von meinen Eltern übernommen habe) meine schwache, bedürftige, ängstliche Seite und sehe um mich herum, lauter kranke, arbeitsscheue, versiffte Heulsusen, die sich einfach nur mal zusammenreißen müssen, dann wären sie auch nicht psychisch krank, obdachlos oder Flüchtling!!! Um es mit den Ärzten zu sagen: „Du musst deinen Selbsthass nicht auf andere projizieren, damit niemand merkt, was für ein lieber Kerl du bist“ (aus „Schrei nach Liebe“).
Weniger bekannt als dieser psychische Abwehrmechanismus, ist, dass Menschen, die auf diese Weise als Projektionsflächen dienen, tatsächlich davon beeinflusst werden können und die „untergejubelten“ Verhaltensweisen und Charakterzüge tendenziell eher an den Tag legen. Wir kennen das am ehesten aus Familien, in denen das „schwarze Schaf“ sich tatsächlich konfliktreicher verhält, obwohl es zuerst nur eine von außen zugeschriebene Rolle gewesen sein mag. Oder von Ungeschickten, die immer ungeschickter werden, je mehr ich sie bei ihren Verrichtungen beobachte. Oder auch einfach, dass jemand seine inneren Konflikte in sich selbst nicht aushält, unbewusst auf mich überträgt und ich mich nach der Begegnung schlecht und ausgelaugt fühle.
Das funktioniert deshalb, weil wir eben von den Erwartungen, Vorurteilen und inneren Zuständen unseres Umfeldes nicht völlig unbeeindruckt sind. Wenn jemand nur bestimmte Seiten von mir wahrnimmt und diese noch dazu extrem verzerrt oder vergrößert, reagiere ich auf diese permanente Unterstellung. Es gibt dafür natürlich auch einen Fachbegriff, nämlich „projektive Identifikation“. Der Ausdruck wurde geprägt von der Psychoanalytikerin Melanie Klein (1882 bis 1960), die vor allem die Psychoanalyse von Kindern weiterentwickelte und untersuchte, wie sehr Kinder die Projektionen ihres Umfeldes übernehmen und auch negative Überzeugungen über sich selbst quasi umsetzen. Allerdings auch, wie Kleinkinder ihre Stimmungen, die sie noch nicht zu verdauen gelernt haben, auf ihre nahen Bezugspersonen projizieren. Man könnte sagen: Menschen, vor allem von anderen abhängige, tun unbewusst, was andere unbewusst von ihnen erwarten. Und man könnte hinzufügen: Wer als Kind nicht lernen durfte, durch ein unterstützendes Umfeld seine negativen Emotionen auszuhalten, neigt als Erwachsener viel eher dazu, solche inneren Zustände nach außen zu projizieren. Rassismus wäre dann eine Rationalisierung des projektiven Vorgangs, bei dem Menschen mit bestimmten Aussehen alles unterstellt wird, was in einem selbst nicht rund läuft.
In Calvaire können wir diesen Mechanismus gut beobachten. Allerdings gibt es auch noch eine andere Art von Projektion, die in diesem Film noch zentraler ist: Ich kann nämlich nicht nur meine uneingestandenen Konflikte und gesellschaftlich wenig akzeptierten Impulse und Affekte auf andere Menschen projizieren, sondern auch meine Sehnsüchte. Fast alle kennen das aus der rosaroten Phase des Verliebtseins: man sieht im Gegenüber das, was man sich immer gewünscht hat. Auch ein Potenzial, das man selbst gerne hätte. Auch in Calvaire geht es um Sehnsucht. Die frauenlosen Männer des Ortes projizieren ihre Wünsche nach Weiblichkeit auf den durchreisenden Künstler. Damit thematisiert der Film einen zentralen, aber oft übersehenen Aspekt des Patriarchats, in dem ja die klassische Rollenzuschreibung vereinfacht gesagt lautet: Mann = stark, hart, rational und somit Beschützer, Krieger, materieller Ernährer. Frau = schwach, weich, emotional und somit einerseits zu beschützendes Wesen, an dem man die eigene Stärke demonstrieren kann, und andererseits aber auch eine notwendige, verständnisvoll emotionale Versorgerin.
Der oft übersehene Aspekt ist der, dass Männer ihre bei sich selbst abgelehnte weiche Seite, die empathisch, mitfühlend und fürsorglich sein könnte, auf Frauen (oder Menschen, die sie in ihrer Projektion zu Frauen machen) projizieren. Dabei passiert etwas ganz Erstaunliches: Der Mann, der sich selbst nicht zutraut, lieb und fürsorglich mit sich zu sein, macht sich abhängig von einem weiblichen Wesen, dass ihn emotional versorgen soll. Da der Mann sich diese unbewusst erzeugte Abhängigkeit aber nicht eingestehen kann und kein schwacher Bittsteller sein darf und will, muss er die Frau (oder den weiblich gelesenen Mann) als Besitz unter seine Kontrolle bringen. Das rechtfertigt er rational damit, dass die Frau eben schwach und emotional ist, und ihn als Beschützer braucht. Emotional hilft ihm bei dieser Unterdrückung der Frauen, dass der Mann die bei sich abgelehnte zartfühlende Seite natürlich nicht nur in sich, sondern zumindest potenziell auch in der Frau hasst.
Das mag sich jetzt für manche erst einmal wie eine recht steile These lesen. Aber wer sich Calvaire ausgehend von diesen Überlegungen sehr genau anguckt, wird vieles entdecken, was auf diese Weise plötzlich Sinn ergibt. Und auch jenseits filmischer Fiktion im eigenen Umfeld lohnt es sich, einmal die Fragen zu stellen: Warum werten Männer Frauen ab? Wofür werten sie sie ab? Warum versuchen Männer, Frauen zu kontrollieren (von A wie Abtreibungsgesetzen über B wie Bodyshaming bis Z wie Zwangsprostitution), wenn sie doch das starke und unabhängige Geschlecht sind? Warum drehen manche durch, wenn sich eine Frau zu trennen droht? Was hat es mit Ehrenmorden und Femiziden auf sich? Warum sind die Rechten so versessen auf die „gute, alte Kleinfamilie“ mit ihren klassischen Rollen? Und warum basiert das Patriarchat unter anderem darauf, dass Frauen quasi ein Besitz der Männer sind?
Man muss diese Hopsygedanken nicht kritiklos übernehmen, aber im fiktiven und im realen Horror die Augen aufzuhalten kann ja nicht schaden.
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