Ein künftiger Klassiker des „Familienhorrors“?
• USA 2018
• Regie: Ari Aster
• Laufzeit: 128 Minuten
Handlung: Annie Graham (Toni Collette) ist eine Frau in den mittleren Jahren als ihre Mutter stirbt. Zu der hatte sie ein ziemlich ambivalentes Verhältnis, über das sie nicht mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern, sondern nur in einer Selbsthilfegruppe spricht. Starke psychische Probleme scheinen in Annies Herkunftsfamilie eine große, aber unausgesprochene Rolle gespielt zu haben. Das ältere ihrer beiden Kinder, Peter, wollte Annie vor seiner manipulativen Großmutter beschützen, die jüngere, Charlie, baute jedoch ein enges Verhältnis zu der seltsamen Frau auf. Diese Charlie ist es dann auch, die sich nach dem Tod der Oma zunehmend sonderbar verhält. Als sie bei einem Unfall stirbt, gerät die Familie und vor allem Annie endgültig aus den Fugen. In der Selbsthilfegruppe lernt sie jedoch Joan (Ann Dowd) kennen, die ihr zeigt, wie man Kontakt mit einem verstorbenen Kind aufnehmen kann.
Besprechung: Was dann folgt, ist kein Geisterfilm, sondern ein nervenzerrendes und unheimliches Familiendrama, das nach hinten raus in puren Horror umschlägt. Langsam, aber zielstrebig driften wir mit Annie wie in alten Meisterwerken („Rosemaries Baby“, „Die Körperfresser kommen“, „Shining“) in eine zunehmend der bekannten Wirklichkeit spottende, paranoide Atmosphäre und verlieren zusammen mit der fantastisch gespielten Hauptfigur die Orientierung. Toni Collette geht hier massiv aus sich raus und hätte für ihre facettenreiche und energiegeladene Performance in „Hereditary“ den Oscar verdient gehabt. Gabriel Byrne als zunehmend in sich verschwindender Ehemann liefert zwar keine vergleichbare, aber eine sehr überzeugende Leistung, mit der die beiden jugendlichen Darsteller*innen (Milly Shapiro als Charlie und Alex Wolff als Peter) fast mithalten können.
Dieser erste Langfilm des damals 32-jährigen Ari Aster ist ein sensationelles Debut: so sicher, eigenständig und effektiv inszeniert, dass man des Öfteren an das Werk eines Altmeisters denkt. Natürlich ist ein Film nie allein das Werk eines Regisseurs, sondern eines gesamten Teams. So tragen beispielsweise die starke Kameraarbeit von Pawel Pogorzelski und die teils atonale Filmmusik des Jazzmusikers Colin Stetson mit ihren Industrial-Anleihen maßgeblich zur beklemmenden Atmosphäre des Films bei. Dennoch ist es wie zu erwarten Ari Aster, der durch diese abgründige Familiengeschichte über Nacht bekannt wurde. Vor Hereditary kannte kaum jemand seinen Namen, seitdem gibt es kaum einen (Horror-)Filmfan, der ihn nicht kennt. Wie hier die langsame Erzählweise der 1970er mit einer nie wegsickernden Spannung und komplexer erzählerischer Substanz kombiniert werden, ist ein Glücksfall für das moderne Horrorkino und hat Genre- wie Arthousefans weltweit begeistert.
Bei all den Superlativen, mit denen der Film zu Recht bedacht wird, muss ich allerdings auch auf ein paar Dinge hinweisen, die den Sehgenuss einschränken können: Zum einen ist der Film wie für Arthouse-Horror typisch fast mehr bedrückend als unheimlich, zum anderen, und der Punkt wiegt für mich schwerer, finde ich keine Figur in der Geschichte wirklich sympathisch. Am ehesten konnte ich noch mit Peter mitgehen, der aber im Verhältnis zu seiner Mutter etwas blass bleibt und nie ins Handeln kommt. Seine jüngere Schwester Charlie hingegen fand ich regelrecht unangenehm.
„Hereditary“ ist ein Film, den man mehrmals gucken muss, um die Geschichte in ihren Verästelungen zu erfassen und um zu erkennen, wie fein das Ganze gearbeitet ist. Beim ersten Sehen ist man noch zu sehr involviert, um beispielsweise interessante Montagen zu schätzen, in denen Verbindungen zu auf den ersten Blick unzusammenhängenden Objekten die Assoziationskraft des Publikums triggern. Eine Technik, die zum Beispiel auch „Wenn die Gondeln Trauer tragen“ meisterlich genutzt hat. Durch diese geschickten optischen Angebote gerät man selbst in Versuchung, einen verstörten und paranoiden Blick auf die Welt zu entwickeln: Ist Familie nicht eher ein dunkler Kult als eine schützende Gemeinschaft? Bestimmt uns unsere Herkunft mehr als wir es wahrhaben wollen? Haben wir einen freien Willen oder werden wir von dämonischen Mächten gesteuert? Und gibt es überhaupt eine Heilung, wenn wir einmal das Vertrauen in die anderen und in uns selbst verloren haben?
Trivia: Toni Collette hatte ihrer Agentur aufgetragen, keine schweren, düsteren Stoffe mehr für sie an Land zu ziehen. Sie wolle nur noch Komödien machen. Dann las sie aber doch das Script von „Hereditary“, war begeistert, entschied sich anders und spielte sehr wahrscheinlich die Rolle ihres Lebens. Ari Aster bezeichnete sie als den am besten vorbereiteten Regisseur, mit dem sie je gearbeitet hatte. In ihren Augen hatte er den fertigen Film bereits vor Drehbeginn vor Augen. Tatsächlich hatte Aster zu allen Figuren im Film detaillierte Hintergrundgeschichten geschrieben, noch bevor er sich ans Drehbuch setzte. Und hatte auch sonst bereits vor dem Start der Dreharbeiten sehr klare Vorstellung von „Hereditary“ entwickelt.
IMDB: 7.3 von 10
Letterboxd-Rating: 4 von 5
Neft-Rating: 4.5 von 5
// HOPSYS GEDANKEN
Hereditary präsentiert die familiäre Tragödie als unausweichlich. Von Anfang an hat man das Gefühl, dass die Menschen ihrem Erbe nicht entkommen können. Diese fatalistische Sicht wird im Film auch thematisiert: In Peters Schulunterricht geht es um antike Dramen und die Frage, ob das vorgezeichnete Schicksal der „tragischen Helden“ nicht vielleicht gar nicht so spannend und tragisch ist, aber eine Schülerin antwortet, es sei tragischer, weil es keine Hoffnung gebe. Womöglich sieht das auch Ari Aster zumindest innerhalb dieses Films so. Ich hingegen denke: Konflikte sind spannender, fesselnder und das Scheitern von Menschen tragischer, wenn es Hoffnung gibt, und wenn wir von einer Wahlfreiheit ausgehen, die dem antiken griechischen Denken eher fremd war. Die Idee des freien Willens breitete sich erst mit dem Christentum in Europa aus und hat bis heute eine große Wirkung auf unser Verständnis vom Menschsein. Wir glauben nicht, dass unsere familiäre Herkunft unser Schicksal determiniert, sondern dass wir es selbst in der Hand haben unserem Leben eine andere Richtung zu geben.
In den letzten Jahren sind Begriffe wie „multigenerationale“ oder „intragenerationale Traumata“ oder „Trauma-Vererbung“ bzw. „Trauma-Weitergabe“ populär geworden. Dahinter steckt die Beobachtung, dass auch noch Kinder und sogar deren Kinder häufiger an psychischen Krankheiten leiden, wenn die Eltern oder Großeltern ein Trauma erlitten haben. (1) Die Schriftstellerin Christa Wolf formulierte es in ihrem Buch „Kindheitsmuster“ so: „Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.“
Ist es also so, dass man Stress, Angst, Schmerz und auch die Neigung zu psychischer Krankheit „mit der Muttermilch aufsaugt“? Das scheint tatsächlich so zu sein, und zwar auf zweierlei Weise. Zum einen wirken sich Traumata aufs Erbgut aus, indem sich durch extremen Stress die DNA verändern können. Dieses erhöhte Stresslevel können die Kinder erben und sind dann in der Regel anfälliger für psychische Leiden. (2) Die andere Art der Weitergabe funktioniert sozial: Traumatisierte Eltern können weniger zugewandt und reizbarer sein oder einfach niedergeschlagen und ängstlich. Auch (und vielleicht gerade) wenn nicht über die Belastungen gesprochen wird: Die Kinder registrieren abwesende Gesichtsausdrücke, hochgezogene Schultern, gequältes Lächeln oder eine gepresste Stimme – und beziehen es wahrscheinlich auf sich. Vor allem wenn Kinder das, was die Eltern behaupten und das, was sie mit dem Körper ausdrücken, nicht in Einklang bringen können, kann chronische Verwirrung entstehen, die ebenfalls zu erhöhtem Stress und einem niedrigeren Selbstwertgefühl führen kann. (3)
Aber fatalistisch muss man wegen der wissenschaftlichen Beobachtungen, die auch schon bei Säugetieren gemacht werden können, nicht werden. Menschen (und andere Säugetiere), die in jungen Jahren erhöhtem (emotionalen) Stress ausgesetzt waren, der sich verstetigt hat und damit oft erst Jahrzehnte später zu psychischen Krankheiten beiträgt, können ihr Stresslevel auch wieder senken. (4) Dazu tragen Übungen aus dem Bereich der Achtsamkeit, Sport und Meditation bei, vor allem aber ein angenehmes, liebevolles, vertrauenswürdiges Umfeld. So lässt sich nach und nach das lernen, was manche Traumaforscher*innen „Selbstregulation“ nennen. Nüchtern und kurz: Neuronale Netze sind etwas Lebendiges. Sie werden geprägt, können aber auch umgeprägt werden. (5)
Ich konnte es bei unserem Hund beobachten, der schwer traumatisiert aus einer Tötung in Kroatien nach Deutschland kam und sehr ängstlich und schreckhaft war, extrem anfällig für Stress. Durch liebevolle Begleitung durch die Jahre lernte sein Gehirn, dass es nicht im permanenten Alarmmodus sein muss, dass ein Knallgeräusch in der Nacht keinen Schuss bedeuten muss und osteuropäische Männer nicht alle Mörder sind. In seinen letzten Jahren war er kein rundum tiefenentspannter Hund, aber viel weniger gestresst als in den ersten Jahren. Er konnte in der Regel angstfrei durch die Stadt flanieren und darauf vertrauen, dass er letztlich geborgen ist. Und er wurde zu einem Kuschelhund vor dem Herren, der sich beim Streicheln komplett entspannte und wohlig seufzte.
(1) https://www.deutschlandfunk.de/traumavererbung-bis-ins-vierte-glied-traumata-praegen-auch-100.html
(2) https://www.sueddeutsche.de/gesundheit/genetik-traumatische-erlebnisse-praegen-das-erbgut-1.1936886
(3) https://www.deutschlandfunkkultur.de/trauma-traumata-transgenerational-generationen-100.html
(4) https://www.spektrum.de/news/trauma-vererbung-kann-verhindert-werden/1414373
(5) Dami Charf: „Auch alte Wunden können heilen. Wie Verletzungen aus der Kindheit unser Leben bestimmen und wie wir uns davon lösen können.“ Kösel-Verlag, München 2018, S. 163 ff.
Kommentar schreiben