Heftiger Arthousefilm über eine Außenseiterin
• Österreich, Deutschland 2017
• Regie: Lukas Feigelfeld
• Laufzeit: 102 Minuten
Handlung: In vier Kapiteln („Schatten“, „Horn“, „Blut“ und „Feuer“) folgen wir Albrun, einer Ziegenhirtin im 15. Jahrhundert. Im ersten Kapitel ist sie ein zehnjähriges Mädchen, das mit seiner Mutter auf einer Alm in den Alpen lebt. Ein karg lebendes Zweiergespann, von der Dorfgemeinschaft im Tal zugleich gemieden und argwöhnisch beäugt. Eine alleinerziehende Mutter? Das verheißt nichts Gutes. Dann stirbt die Erwachsene an einer unheimlichen Krankheit und Albrun bleibt allein zurück. Im zweiten Teil erleben wir Albrun etwa 20 Jahre später. Noch immer hütet sie Ziegen, noch immer ist sie eine Außenseiterin. Und wie schon ihre Mutter hat sie ein Kind ohne Mann dazu. Im Folgenden erleben wir mit, wie die junge Frau zur „Hexe“ wird.
Besprechung: Diese Entwicklung, die der österreichische Regisseur Lukas Feigelfeld in seiner Abschlussarbeit für die Deutsche Film- und Fernsehakadamie Berlin begleitet, ist verstörend, erschreckend und herzzerreißend zugleich. Der stark entschleunigte, sehr körperliche und wortkarge Arthouse-Film lässt „The Witch“ rasant, verlabert und unterhaltsam wirken. Das muss man aushalten können, um in dieses Außenseiterdrama einzutauchen, das sich mehr durch Bilder und Blicke mitteilt als durch Worte und eine ausführliche Handlung.
Die Fotografie von Mariel Baquiero ist wirklich stark und an einigen Stellen sogar atemberaubend. Das ebenfalls starke Sounddesign trägt gut zur düsteren, archaischen und später psychotischen Atmosphäre bei. Der Score des Duos MMMD besteht hauptsächlich aus monotonen Celloklängen, abgerundet mit etwas subtilem elektronischem Ambient, ist aber nicht ganz mein Ding. Manchmal erinnert es mich an etwas, das man in einer BBC-Dokumentation über Schamanen in Sibirien hört.
Und ja, man kann in dem sperrigen und nicht besonders kostspieligen Film Schwächen erkennen. Für mich ist es in Ordnung, dass er sehr langsam ist, aber gerade in der ersten Hälfte habe ich mich nach mehr intellektueller Substanz gesehnt, damit ich etwas zum Kauen habe, während ich zwei Minuten oder länger eine Fichte betrachte. Und der Sprung von Albrun als zehnjähriges Kind, das seine Mama verloren hat, zur 30-jährigen Einzelgängerin wirft ein paar Fragen auf, die man als großes Handlungsloch bezeichnen könnte. Aber man sollte wahrscheinlich von dem Film nicht erwarten, was er nicht ist und nicht sein will: eine diskursive Auseinandersetzung anhand einer elaborierten und letztlich befriedigenden Geschichte. Vielmehr will uns Hagazussa körperlich teilhaben lassen an einer Welt, in der innere und äußere Natur und der Körper als Schnittstelle dazwischen noch wild, faszinierend und bedrohlich sind. Und in der auch der soziale Körper nur mühsam und wie unter Zwang gezähmt werden kann – mit dem Preis der Ausgrenzung des nur allzuvertrauten Befremdlichen.
Hagazussa (althochdeutsch für "Zaunreiterin", also eine zwischen den Welten wandelnde Frau bzw. „Hexe“) ist ein unerschrockener und ambitionierter Film, der Erwartungen auf produktive Weise enttäuscht. Vor allem aber hat er einige Szenen echten unkommerziellen Horrors zu bieten, die man sich als Fan des Genres nicht entgehen lassen sollte. Vorausgesetzt man bekommt beim Gedanken an "arthouse" und Regisseure wie Andrej Tarkowskij, Béla Tarr oder Lars von Trier keinen rätselhaften Ausschlag am Körper.
IMDB: 6.5 von 10
Letterboxd-Rating: 3.8 von 5
Neft-Rating: 4.5 von 5
// HOPSYS GEDANKEN
Der Glaube an Hexen entsprach dem theologischen Mainstream, wurde vor allem von der zurückgebliebenen Landbevölkerung kultiviert und ist ein Phänomen des „finsteren“ Mittelalters? Alles falsch. Auf Jahrhunderte galt der im Jahre 906 herausgegebene Canon episcopi als verbindliche kirchliche Rechtsordnung. Darin wird der Glaube an Hexen und ihre Zauberkräfte als Blendwerk des Teufels und Wahnvorstellung abgetan. Mochten auch einige Heiden und Christen durchaus an böse Zaubereien von Hexen glauben – eine offiziell von der Kirche verbreitete Sichtweise war dies während des gesamten Mittelalters nicht. In der frühen Neuzeit erschütterte jedoch eine Reihe von Umbrüchen die über Jahrhunderte stabile mittelalterliche Gesellschaftsordnung. So veränderte der Buchdruck die Verbreitung und Zugänglichkeit von Wissen, grob vergleichbar mit der Digitalisierung, die Menschen heutzutage weltweit dazu befähigt, althergebrachte Autoritäten und Lehrmeinungen in Frage zu stellen und sich stattdessen ein „eigenes“ Bild zu machen.
Ein folgenschwerer Fall von Fake News war 1487 die Veröffentlichung des Malleus maleficarum, also des „Hexenhammers“. Der Dominikanermönch und Inquisitor Heinrich Kramer (mutmaßlich unter Mithilfe des Dominikaners und Schriftstellers Jakob Sprenger), hatte zunächst erfolglos versucht, Hexenverfolgungen ins Leben zu rufen. Mit dem Buch publizierte er eine umfangreiche dreiteilige kirchliche Rechtsschrift, die sich sprachlich und argumentativ auf dem wissenschaftlichen Niveau der Zeit befand. Im Frage-Antwort-Stil legt die Schrift dar, warum Zauberei tatsächlich existiert, und dass es sich beim Hexenwesen um eine europaweite zerstörerische Gegenreligion zum Christentum handelt. Dabei knüpfte der „Hexenhammer“ an eine bereits etablierte Mythologie an: Zu Beginn des 13. Jahrhunderts reagierte die katholische Kirche auf eine Zunahme christlicher Laienbewegungen, indem sie sogenannte Inquisitionsgerichte ins Leben rief. Diese dienten als intellektueller Arm der Denunziation und Verfolgung von Gruppierungen wie den Katharern, den Bogomilen oder den Waldensern. Auch dem zunehmend an Einfluss gewinnenden Templerorden unterstellte man, in Wirklichkeit eine satanistische Sekte zu sein. Diese mit dem Teufel verbündeten Feinde unterwanderten angeblich das Abendland, praktizierten bizarre Sexualpraktiken, beteten den Teufel an und opferten Kinder. Die in Deutschland zuletzt prominent von Xavier Naidoo verbreiteten Gräuelgeschichten über brutale Kinderschändungen und Ritualmorde sind uralt. So lesen wir bereits in einem antiken Text, dem Dialog „Octavius“:
„Was die Zeremonien bei der Aufnahme neuer Mitglieder betrifft, so sind die Details ebenso abstoßend wie wohlbekannt. Ein Kind, das mit Teig umhüllt ist, um den Nichtsahnenden zu täuschen, wird vor den Kandidaten gelegt. Dieser sticht auf das in der Teighülle verborgene Kind ein, bis es tot ist – der Novize kann es nicht sehen, er glaubt seine Stiche wären harmlos. Dann - es ist grauenhaft – trinken sie voller Gier das Blut des Kindes und balgen sich um die Teile seines Körpers.“
Die Pointe: Hier schreibt ein Minucius Felix über Anschuldigungen gegen die Urchristen. Und erwähnt in der folgenden Passage auch gleich Sexorgien, die diese neue religiöse Bewegung angeblich mit Blutsverwandten praktiziert. Die sogenannte "Ritualmordlegende" ist also uralt: Einer Minderheit werden grausige, geheime, schwarzmagische Verbrechen an den Kindenr der Mehrheit unterstellt. Im Mittelalter waren vor allem Juden Opfer dieser Gerüchte, mit denen sich Vertreibungen und Lynchmorde rechtfertigen ließen. Es wird oft nicht genug beachtet, dass dem Malleus maleficarum ein Malleus judaeorum (um 1420) vorausging und das Wort "Hexensabbath" antijudaistisch geprägt ist. (1)
In der frühen Neuzeit konnten dann aufgrund des "Hexenhammers" im Zuge des "Hexenwahns" nicht allein jüdische Menschen, sondern jede und jeder verdächtigt werden, Ritualmorde zu praktizieren und durch Unglauben die Strafe Gottes auf die ganze Gemeinde zu ziehen. Im "Hexenhammer" wird den weiblichen und männlichen "Hexen" unterstellt, eine Flugsalbe aus den Extremitäten von Kindern herzustellen. Die neuste Version der Ritualmordlegende beschuldigt eine (oft jüdisch gedachte) Elite aus Hollywoodstars, Politikern, Bankern und Topmanagern durch einen internationalen Kinderhändlerring hunderttausende Kinder sexuell auszubeuten, zu foltern und aus ihren angstgeschüzttelten Körpern Adrenochrom zu gewinnen, ein Stoffwechselprodukt des Adrenalin, das angeblich verjüngen soll.
Es wundert nicht, dass Nazigrößen wie Heinrich Himmler im "SS Ahnerbe" ausgiebig die Hexenverfolgung studierten, mit der bizarren Pointe, dass er sie zur "judäo-christlichen Verfolgung arischer Germanenweiber" umdeutete. Und natürlich bedienten sich die Nazis gezielt der "Ritualmordlegende". So schreibt Himmler mit Bezug auf das verschwörungstheoretische Buch "Die Wahrheit über die jüdischen Ritualmorde" von Frederik to Gaste ine einem Brief an Kaltenbrunner, den Chef der SS-Sicherheitspolizei:
"Ich denke daran, dass wir diese Ritualmord-Fälle dann in unserer Presse bringen, um damit die Herausnahme der Juden aus den Ländern zu erleichtern"
Auch riet er, in "unseren Sendern" vermisste Kinder mit jüdischen Ritualmorden in verbindung zu bringen. So glaubten Himmelr und Hitler in ihrem ganz eigenen Umgang mit Wirklichkeit den anklangenden Gerüchten über eine jüdische Verschwörung einerseits, benutzten sie aber auch bewusst als Propaganda zur Durchsetzung ihrer Pläne, ohne von deren Wahrheitsgehalt zwingend überzeugt zu sein.
Doch zurück zur mittelalterlichen Verfolgung der Ketzer (das Wort „Ketzer“ leitet sich von „Katharer“ ab, was wiederum die „Reinen“ bedeutet). Eine wichtige Rolle kam dabei früh dem Dominikanerorden zu. Die Jagd auf die Abweichler verlief sehr erfolgreich, die meisten wurden ruhiggestellt oder vernichtet und die Ketzerverfolgung im großen Maße überflüssig. Aber: Welche Institutionen und Akteure erklären sich schon selbst für überflüssig und lösen sich freiwillig auf? Wieder und wieder versuchten einzelne Inquisitoren die Furcht vor einer satanischen Weltverschwörung in der Bevölkerung zu schüren. Sie hatten aber erst Erfolg, als die Gesellschaft einen krisenhaften Umbruch großen Ausmaßes durchlief.
Da war zum einen der bereits erwähnte Buchdruck und mit ihm ein Aufschwung der Wissenschaften: Galilei, Kepler, Descartes, Bacon, Kopernikus – sie alle veröffentlichten ihre bahnbrechenden Entdeckungen und Überlegungen in der fraglichen Zeitspanne. Und stellten dabei das bestehende Weltbild in Frage, demzufolge die Erde den fixen Mittelpunkt eines um sie kreisenden Universums darstellte. Diese Erschütterung bezeichnete Siegmund Freud später als eine der drei „narzisstische Kränkungen“. Die Reformation und die in ihrem Zuge entstehende Gegenreformation verunsicherte die Leute zusätzlich. Autoritäten wurden weitaus stärker in Frage gestellt, nicht unähnlich zu heute, wo dieser Umstand auch populistischen Parteien und alternativen Medienformaten wie KenFM Zulauf beschert.
Zudem bildete sich in der frühen Neuzeit in den Städten aus den Handwerkerzünften ein neues selbstbewusstes Bürgertum und stellte die seit langem bestehende Ständeordnung in Frage. Zusätzlich erlebte die frühe Neuzeit einen starken Anstieg der Bevölkerung und damit einhergehend auch größere Migrationsbewegungen. Im 16. Jahrhundert wurde Europa dann von einer schweren Wirtschaftskrise heimgesucht. Schlimmer noch: der 30-jährige Krieg versehrte große Teile der Bevölkerung auf bis zu diesem Zeitpunkt unvorstellbare Weise. Viele Männer starben im Kriegsdienst. Zurück blieben Witwen. Aus den Prozessakten lässt sich erkennen, dass viele der als Hexen verurteilten Menschen solche Witwen gewesen sind oder Frauen jenseits der 40 – für damalige Verhältnisse alte Frauen, die der Gesellschaft weitgehend als nutzlos erschienen.
Vergegenwärtig man sich all diese Belastungen und Unsicherheiten, zu denen in manchen Regionen noch mehrere Missernten in Folge dazu kamen, dann wundert es eher, wie zivilisiert sich viele Menschen damals verhielten. Und man fragt sich, wie sicher wie uns in einem seit Jahrzehnten weitgehend friedlichen und von Wohlstand geprägtem Europa sein können, dass eine Verschlechterung dieser Verhältnisse nicht auch uns in nennenswerter Zahl anfälliger für Sündenbockerzählungen macht.
Wir müssen uns heute wieder vor Augen halten, dass die Hexenverfolgungen von einer intellektuellen Oberschicht initiiert wurden, nicht auf dem Land sondern in den Städten begannen und die meisten Opfer in den industriell am weitesten entwickelten Gebieten forderten. Von Anfang stellten sich etliche Theologen und Autoritäten der Zeit gegen den Glauben an Hexen und ihre Verfolgung, oft jedoch ohne Erfolg. Zu den bekanntesten Gegnern der Hexenverfolgungen zählen Christian Thomasius, Agrippa von Nettesheim und Friedrich von Spee. Das erst Letzterer nennenswertes Gehör bei der Obrigkeit fand, könnte damit zusammenhängen, dass von Spee in einer Zeit wirkte, in der der Hexenwahn längst außer Kontrolle geraten war und zunehmend Adelige zu Opfern der Hysterie wurden.
Was uns ebenfalls auch heute „brennend“ interessieren sollte: Nicht überall konnten die Hexenjäger Fuß fassen. Während in einem Städtchen die Scheiterhaufen brannten, wurde im Nachbarort nicht ein einziger Mensch hingerichtet. Der Grund: Die Menschen zeigten sich untereinander trotz oder gerade wegen aller Mühsal und Not solidarisch und jagten die Hexenjäger mit Schimpf und Schande davon.
P.S.: Seit den 1960ern wurden wahrscheinlich mehr Menschen wegen des Vorwurfs der Hexerei getötet als in der gesamten frühen Neuzeit. Allerdings nicht in Europa, sondern in Ländern wie Tansania, Südafrika, Indonesien, Indien, Kenia oder Saudi-Arabien. Dabei können Epidemien, wie vor allem die Verbreitung von Ebola, als Hexenwerk betrachtet werden und zu massenweisen Tötungen führen. Die Ethnologieprofessorin Iris Gareis beobachtete gerade um den Jahrtausendwechsel größere Verfolgungswellen in etlichen afrikanischen Ländern und sagt in Bezug auf die historischen Prozesse in Europa und die jüngeren Verfolgungen in Afrika: "Die Mechanismen ähneln sich bei den verschiedenen Wellen der Verfolgung." Immer werde den Beschuldigten nachgesagt auf magische Weise für Unheil, Krankheit, Tod, privates Elend und wirtschaftlichen Schaden verantwortlich zu sein. Eine spezielle, bereits aus den Hexenverfolgungen der frühen Neuzeit bekannte Interpretation ist dabei: Gott schickt solche Plagen als Strafe dafür, dass wir Abweichler, ja Teufelsanbeter in unserer Mitte dulden.
(1) https://brightsblog.wordpress.com/2009/05/10/vom-%C2%ABjudenhammer%C2%BB-nach-auschwitz/
Kommentar schreiben