Intensive Kannibalen-Romanze mit Anspruch
• Italien, USA 2022
• Regie: Luca Guadagnini
• Laufzeit: 131 Minuten
Handlung: Maren ist 17 Jahre alt und ein „Eater“. Das heißt: Sie findet leider Menschen lecker. Als sie wieder einmal jemand beißt, hält ihr Vater es nicht mehr aus und lässt seine andersartige Tochter nach Jahren des unsteten Umherirrens zurück. Auf sich allein gestellt, macht Maren Bekanntschaft mit anderen Eatern und findet in einem von ihnen sogar die große Liebe. Aber auf was eine Zukunft dürfen die beiden jungen Menschen hoffen?
Besprechung: Der Wunsch miteinander zu verschmelzen, die Gefahr, den anderen dabei umzubringen, die Sehnsucht nach Verbindung, die Notwendigkeit autark zu bleiben – mit diesem Nähe-Distanz-Problem hat sich schon Hermann Hesse in seinen Novellen herumgeschlagen, allerdings ohne dass dabei Menschen andere Menschen gegessen haben, im Extremfall sogar mit „Knochen und allem“!
Der Film nach dem gleichnamigen Roman von Camille deAngelis hätte großartig werden können (und ist es für manche auch): tolle Darsteller (Taylor Russell, Timothée Chalamet, Mark Rylance), stilvolle, sichere Inszenierung mit einem gleichzeitig spröden und schönen Nordamerika, Mut zum arthousigen Genre-Mash-up aus Coming of Age, Drama, Horror, Roadmovie und Romanze, dazu wundervolle Musik. Der Film lässt sich Zeit, so dass die einzelnen Szenen viel Raum haben, um Wirkung zu entfalten, wie zum Beispiel die erste Begegnung zwischen Maren und „Sully“, eine Sequenz, die mir besonders gut gefällt.
Aber ich habe auch größere Probleme mit dem Film: Mir bleibt unklar, was es mit diesem Hunger auf Menschenfleisch auf sich hat. Weder erlebe ich die Lust danach noch irgendwelche Entzugserscheinungen. Entsprechend unstimmig wirken die moralischen Überlegungen. Maren findet es falsch, Menschen zu töten, aber sie kennt Lee keine fünf Minuten, da bringt der mal eben einen Mann um, in dessen Wohnung dann KISS aufgelegt wird. Später im Film ist Maren voll aufgewühlt, weil ein anderes Opfer Lees Frau und Kinder hat. Dass der Mann aus dem Supermarkt vielleicht auch ein Kind hat oder zumindest Eltern, spielt hingegen keine Rolle. Er hat sich ja unsympathisch verhalten. Maren scheint nie wirklich Schuldgefühle zu haben, redet aber manchmal von Moral. Auf mich wirkt das wie eine Behauptung, die mich kalt lässt. Ich komme dem Konflikt der Eater nicht näher, zumal sie selbst keinen zu haben scheinen, niemand unternimmt jemals den ernsthaften Versuch, gegen seine Begierde anzugehen oder zumindest Fleisch von Toten zu besorgen. Letztlich gibt es eh keinen Ausweg, und was der Hunger soll (Sucht, Ersatz für Nähe, special condition, Traumareaktion, Gewaltspirale der Menschheit) scheint den Figuren so egal, wie den Machern des Films. Schade. Inszenatorisch ist „Bones and all“ dennoch sehr sehenswert und bietet eine eindrückliche, originelle Atmosphäre. Vielleicht haben andere weniger inhaltliche Probleme mit dem Film als ich.
Trivia: Regisseur Guadagnini dürfte auch kinobegeisterten Nicht-Horrorfans durch das romantische Liebesdrama „Call me by your name“ aus dem Jahr 2017 bekannt sein. Kein Jahr später polarisierte er schon mit seiner über 150 Minuten langen Interpretation von „Suspiria“ (2018). Dann entwickelte er mit anderen „We are who we are“, eine feinfühlige Dramaserie um Sexualität und geschlechtliche Identität. Es gibt übrigens einen Kannibalismus-Horrorfilm mit dem Titel „We are what we are“ aus dem Jahr 2013, aber das nur am Rande. Und 2022 dann also Bones and all, ein Film, der wie eine Art „Best of“ aus dem bisherigen Schaffen Guadagninis wirkt. In einer Nebenrolle ist übrigens Jessica Harper zu sehen, die sowohl in „Suspiria“ aus dem Jahr 1977 als auch in Guadigninis sehr freier Neuverfilmung mitgespielt hat.
Ein kleines easter egg im Film findet sich in Marens Geburtsurkunde. Dort steht zu lesen, dass sie in Menomonie im US-Bundesstaat Wisconsin geboren wurde. Wisconsin war die Heimat von Jeffrey Dahmer, einem Serienkiller, der Körperteile seiner Opfer aufaß. Auch ein anderer Serienmörder, dem man Kannibalismus nachsagte, stammte aus Wisconsin. Ed Gein stritt vor Gericht allerdings ab, Menschenfleisch gegessen zu haben.
IMDB: 6.8 von 10
Letterboxd-Rating: 3.7 von 5
Neft-Rating: 3.5 von 5
//HOPSYS GEDANKEN
Psychologisch betrachtet gilt Kannibalismus, wenn er nicht aus der Not geboren ist, oder zu den Ritualen sogenannter Naturvölker gehört, als sexuelle Präferenzstörung. Wer von diesem seltenen und krassen Kink betroffen ist, sucht heutzutage wahrscheinlich in Internetforen Gleichgesinnte, bzw. Menschen, die bereit sind, Teile von sich (oder sich komplett) essen zu lassen. Viele belassen es bei entsprechenden Phantasien. Manchmal kommt es aber auch zu miteinander ausgehandelten kannibalistischen Akten wie bei Armin Meiwes, dem „Kannibalen von Rotenburg“ (1), wobei Meiwes dennoch wegen Totschlages des laut Staatsanwaltschaft unter „nicht mehr kontrollierbaren Selbstvernichtungsfantasien“ leidenden Bernd Jürgen Brandes zu achteinhalb Jahren Haft verurteilt. Das Gericht befand Meiwes für schuldfähig, den Getöteten hingegen für „nicht testierfähig“. Meiwes selbst war es dabei wichtig zu betonen, dass er nicht aus sexuellem Verlangen gehandelt hatte. Laut Verteidigung sei er durch ein „zwanghaftes Verlangen nach Menschenfleisch“ motiviert worden. „Der Kannibale von Rotenburg“ wurde kulturell von Rammstein über Titanic bis zum anspruchsvollen literarischen Werk „Rot (Hunger)“ von Senthuran Varatharajah ausgeschlachtet. Auch erschienen drei Sachbücher über Armin Meiwes (2).
Andere Kannibalen fragten ihre Opfer nicht um ihr Einverständnis, sondern ermordeten sie, um sie dann zu essen, so wie Karl Denke (auch bekannt als „Papa Denke“ oder „Der Kannibale von Münsterberg“), der zwischen 1903 und 1924 dreißig Menschen umbrachte und Körperteile von ihnen aß. (3) Weitere Mörder mit kannibalistischen Umtrieben sind beispielsweise Fritz Haarmann („Der Werwolf von Hannover“), Jeffrey Dahmer („Der Kannibale von Milwaukee“), Andrei Tschikatilo („Monster von Rostow“) oder Issei Sagawa, einem Japaner, der laut eigener Aussage von früher Jugend an von dem Gedanken besessen war, eine Frau zu essen, am liebsten eine europäische. Leider gelang es ihm tatsächlich, eine Holländerin zu töten, und sich an ihrer Leiche zu vergehen. (4) So unterschiedlich die Fälle im Einzelnen sind: Die meisten dieser und ähnlicher Täter waren bei ihren kannibalistischen Akten (auch) sexuell motiviert.
2020 publizierten Marlies Oostland und Michael Brecht eine Studie, für die die Datensätze zu 121 kannibalistische Tätern und ihren 631 Opfern ab dem 19 Jahrhundert mit FBI-Datensätzen anders gearteter Morde verglichen. Sie stellten dabei fest, dass die Taten häufig sexuell motiviert waren, die Täter häufig ältere Männer und die Opfer jüngere Frauen sind und dass Kannibalen fast nie Blutsverwandte essen und sich häufig beim Essen von Menschenfleisch erbrechen müssen. (5)
Wer tiefer in das Thema einsteigen will, findet hier eine deutschsprachige wissenschaftliche Publikation:
Klaus M. Beier: "Sexueller Kannibalismus. Sexualwissenschaftliche Analyse der Anthropophagie". Elsevier, Urban & Fischer, München, Jena 2007
(1) https://de.wikipedia.org/wiki/Armin_Meiwes
(2) https://taz.de/Sexualpsychologie/!5193658/
(3) https://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Denke
(5) https://psylex.de/kannibalistische-moerder-psychologie/
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