Dramaturgisch eigenwilliger Überraschungshit
• USA 2022
• Regie: Zach Cregger
• Laufzeit: 102 Minuten
Handlung: Tess hat eine Beziehung hinter sich und will nun in einer anderen Stadt neu anfangen. Deswegen hat sie ein Jobinterview in Detroit. In der Nacht davor steigt sie in Brightmoor, einer heruntergekommenen Vorort-Gegend in einem Airbnb ab. Hier hat es sich allerdings schon Kieth gemütlich gemacht, ein junger Mann, der behauptet, er habe die Wohnung gebucht. Wohl bei einem anderen Anbieter. Einerseits wirkt der Bursche ganz normal, andererseits hat er (also Bill Skarsgård) den fiesen Clown in der Neuverfilmung von „ES“ gespielt. Wie auch immer: Tess lässt sich trotz einiger Bedenken darauf ein, das Schlafzimmer zu nutzen, während es sich der galante Kieth auf dem Sofa bequem macht. Von nun an geht es nicht so weiter wie erwartet.
Besprechung: Spannender und unberechenbarer Film mit guten Darstellern und einigen lange nachwirkenden Szenen. Zu Recht ein Überraschungserfolg, auch wenn man mit den Twists und Brüchen im Film klarkommen muss, um ihn vollauf genießen zu können. Was „Barbarian“ zusätzlich reizvoll macht, ist die Vielzahl an möglichen Interpretationen. Ist das ein Kommentar zu #metoo? Bebildert der Film unsere Lockdowngefühle während der Corona-Pandemie? Geht es um die durchlässigen Grenzen zwischen Opfer und Täter? Den Zerfall der amerikanischen Gesellschaft? Oder ist das einfach nur ein ziemlich krankes Szenario, das trotzdem in manchen Momenten auch zu Herzen geht?
Trivia: Regisseur Zach Cregger machte bisher als Komödiant von sich reden, sei es als Darsteller („Friends with Benefits“, „Wrecked“) oder als Regisseur („Miss March“). Dann aber schrieb er in seiner Garage das Skript zu „Barbarian“ nach der Discovery- Writing-Methode. Das heißt, er wusste selbst nie, wie es weitergehen würde und überraschte sich mit Ideen. Am Ende war er hochzufrieden, aber lange Zeit wollte keine Produktionsfirma den ungewöhnlichen Stoff produzieren. Cregger ließ nicht locker. Am Ende spielte „Barbarian“ das Zehnfache seiner Produktionskosten ein und überzeugte 92 Prozent der Kritiker*innen auf rotten tomatoes.
IMDB-Rating: 7 von 10
Letterboxd-Rating: 3.5 von 5
Neft-Rating: 3.5 von 5
// HOPSYS GEDANKEN
Fast alle kennen den Begriff „Stockholm-Syndrom“, kaum aber jemand den Begriff „Lima-Syndrom“. Dabei ist Ersteres wissenschaftlich kaum besser erforscht als Zweiteres.
Unter dem Stockholm-Syndrom versteht man die angebliche Neigung von Opfern von Geiselnahmen und Entführungen, die Täter*innen sympathisch zu finden, oder sich sogar in sie zu verlieben. Der Ausdruck geht zurück auf eine Geiselnahme, die zwischen dem 23. und 28. August Stockholm in Atem hielt. Nach einem Überfall auf eine Kreditbank im Stadtzentrum nahm der flüchtige Häftling Jan Erik Olsson vier Angestellte als Geiseln (drei Frauen und einen Mann). Die Geiselnahme dauerte 131 Stunden und wurde live im schwedischen Fernsehen übertragen. Eine der Geiseln war Kristin Enmark. Ihr Verhalten prägte den Begriff „Stockholmsyndrom“. Allerdings sagte die Schwedin 2015 in einem Interview:
„Seit 43 Jahren verarbeite ich, was damals geschehen ist. Aber überwunden habe ich es noch lange nicht. [...] Nicht, weil ich als Geisel gehalten wurde, sondern weil man mir mit dem Stockholm-Syndrom lieber einen Stempel aufdrückte, statt wirklich zu verstehen, was damals eigentlich passierte.“ (1)
Tatsächlich gibt es wenige wissenschaftliche Hinweise darauf, dass sich Geiseln auffällig oft zu ihren Entführern hingezogen fühlen. Es konnten bisher auch keine eindeutigen Diagnosekriterien für das Syndrom festgelegt werden, so dass beispielsweise Christian Lüdke und Karin Clemens in einem wissenschaftlichen Aufsatz anzweifelten, dass es das Stockholm-Syndrom überhaupt gibt. (2)
Viel weniger bekannt ist das Lima-Syndrom. Damit bezeichnet man die emotionale Bindung bzw. Identifikation eines Aggressors mit seinen Opfern, die dazu führt, dass zum Beispiel ein Geiselnehmer seine Geiseln freilässt, obwohl er sich damit selbst in eine ungünstige Lage bringt. Benannt wurde das angebliche Syndrom nach einem Fall, der sich 1996 in der japanischen Botschaft Lima (Peru) ereignete. Während einer Party nahmen 14 Aktivisten der Untergrundbewegung Movimiento Revolucionario Túpac Amaru (MRTA) rund 120 Geiseln, um auf die miserable Lage der indigenen Landbevölkerung aufmerksam zu machen und dem damaligen Präsidenten Alberto Fujimori (Sohn japanischer Einwander*innen) mehrere Reformen und die Freilassung inhaftierter MRTA-Mitglieder abzuringen.(3)
Diese Geiselnahme dauerte vier Monate, aber schon im ersten Monat ließen die Aktivisten viele der Geiseln frei, obwohl sie damit ihre Verhandlungsposition eindeutig schwächten. (4) Am Ende kamen alle Geiseln frei und alle Aktivisten wurden getötet.
Anstatt von einem Syndrom zu sprechen, könnte man natürlich auch einfach vermuten, dass die Untergrundkämpfer empathisch empfunden und entsprechend gehandelt haben.
(1) https://www.spiegel.de/geschichte/stockholm-syndrom-so-entstand-die-bezeichnung-a-1109897.html
(2) https://www.thieme-connect.de/products/ejournals/abstract/10.1055/s-2001-15743
(3) https://www.deutschlandfunk.de/vor-20-jahren-in-lima-als-die-untergrundbewegung-tupac-100.html
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